Dieter Kosslick: "Humor hilft"
8. Februar 2017Deutsche Welle: Flüchtlingsströme, Terroranschlänge, der Brexit, ein unberechenbarer US-Präsident. Die Welt ist in derzeit Aufruhr. Spiegelt sich das auch in den Themen des diesjährigen Festivalprogramms der Berlinale wider?
Dieter Kosslick: Diese Themen haben sich offensichtlich angebahnt. Und jetzt sitzt dann noch obendrauf einer, der in einer Art und Weise Dekrete exekutiert, wie die Welt das noch nie erlebt hat. Es ist interessant, dass die Filmemacher schon vorher die Sensibilität hatten. Das hängt damit zusammen, dass die Menschen seit einiger Zeit ziemlich enttäuscht sind von den großen Utopien, von den großen Philosophien - ob das nun der Kapitalismus als wirtschaftliche Philosophie ist, oder der Kommunismus.
Die Menschen glauben diesen Systemen nicht mehr, sie haben ihnen nichts gebracht. Und die Filmemacher blicken dieses Jahr zurück: Warum ist es eigentlich alles so gekommen, wie es heute ist? Was haben die politischen Systeme damit zu tun? Sie suchen lieber andere, kleine Systeme, in denen wir uns wohlfühlen und erholen können, um neu zu starten. Das machen sie in ihren Filmen mit Humor. Wenn's wirklich eng wird, hilft eigentlich nur Humor.
Auf der letzten Berlinale 2016 hat ein italienischer Dokumentarfilm den Goldenen Bären gewonnen: "Fuocoammare" ("Seefeuer") . Setzt sich der Trend starker Dokumentarfilme auch in diesem Jahr fort?
Wir haben damit in den letzten Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht, nicht nur in den Berlinale-Reihen "Panorama" und "Forum", wo traditionell immer viele Dokumentarfilme liefen. Auch im Wettbewerb sind mehrere Dokumentarfilme ja auch ausgezeichnet worden. Da gibt es einen Trend.
Ich habe das Gefühl, die Leute möchten auch deshalb gern Dokumentarfilme sehen, weil die einen anderen, filmischen Blick haben, als die offiziellen tagesaktuellen Bilder, die wir jeden Tag im Internet und im Fernsehen genießen oder nicht genießen müssen.
Filme über Kunst, Künstler oder starke Persönlichkeiten der Zeitgeschichte sind ja immer wieder Thema und spielen eine Rolle. Wen haben sich die Filmemacher in diesem Jahr vorgenommen?
Das hängt vielleicht damit zusammen, dass Künstler immer eine Utopie haben, jedenfalls erstmal eine für sich. Manchmal schwappt sie über in die Gesellschaft, wie zum Beispiel bei Joseph Beuys, der mit seinen Utopien einer der größten Künstler der Welt geworden ist. Genau das zeigt Andres Veiel in seinem aktuellen Dokumentarfilm "Beuys", der auch im Wettbewerb ist.
Aber wir haben auch den Spielfilm "Final Portrait" von Regisseur Stanley Tucci im Programm, mit Geoffrey Rush als Schweizer Bildhauer Alberto Giacometti, der in Paris seine unfassbaren Kunstwerke produzierte. Oder unser diesjähriger Eröffnungsfilm "Django" (über den französischen Jazzmusiker Django Reinhardt, Anmerk. d. Red.), einen Ausnahmemusiker, der unter Repressionen litt und doch zu einem weltberühmten, vielleicht dem besten Gypsy-Jazz-Musiker der Welt wurde.
Es gibt ja auch ein Biopic, einen biografischen Kinofilm, über einen jungen Deutschen mit sehr radikalen Ideen.
"Der junge Karl Marx" von Regisseur Raoul Peck, mit August Diehl als Karl Marx. Der Film zeigt eigentlich nichts anderes, als wie er sich mit seinem Freund Friedrich Engels in der Welt der Arbeiter umschaut, im britischen Manchester den Kapitalismus analysiert und letztendlich genau das voraussagt, was heutzutage passiert.
Ich muss sagen, Karl Marx hatte Recht, aber ihre eigene marxistische Philosophie, die haben Marx und Engels natürlich an die Wand gefahren. Der junge Marx hatte in der Analyse des Kapitalismus Recht, aber in der Umsetzung des Kommunismus da hat es später schwer gehakt.
Dieser Mann, Karl Marx, stiefelte übrigens damals im heutigen Soho herum, in der Water Street in London. Da, wo Karl Marx gewohnt hat, ist heute ein Lokal drin und dieses Lokal heißt interessanterweise "Quo vadis", also "Wo geht der Weg hin?".
Ist Europa und das, was gerade in Europa politisch und kulturell passiert, auch ein Thema auf der Berlinale?
Wir haben sogar einen großen Europa-Schwerpunkt. Das hat damit zu tun, dass wir nicht so viele amerikanische Filme im offiziellen Wettbewerbsprogramm haben. Es gab einfach tolle Filme aus Ungarn zum Beispiel, Ildikó Enyedi hat einen wunderschönen Film gemacht "Testról És Lelekról" ("On Body and Soul") eine schöne Liebesgeschichte, die im heutigen Ungarn spielt.
Vor allen Dingen aus den ehemaligen osteuropäischen Ländern, aus Rumänien, gibt es wieder diese berühmten Filme wie "Ana, Mon Amour" von Călin Peter Netzer. Da gibt es ein Erwachen mit hoher Sensibilität für Repressionen, die auch das post-kommunistische System immer noch bietet - in all den Absurditäten, die da stattfinden.
Den Vorsitz der Wettbewerbsjury übernimmt in diesem Jahr Regie-Altmeister Paul Verhoeven. Was qualifiziert ihn für diesen Job?
Paul Verhoeven ist ein idealer Berlinale-Präsident. Da hätten wir auch schon früher drauf kommen können. Er hat so viele unterschiedliche Filme gemacht. Ich erinnere mich noch, ich war 1973 Student an der Münchener Universität, da schauten wir uns alle den Film "Türkische Früchte" an. Das war doch sehr erstaunlich, was da aus Holland kam in Sachen Sexualität. Dann hat er "RoboCop", gedreht, aber berühmt geworden ist er natürlich mit dem Erotikthriller "Basic Instinct" mit Sharon Stone in der Hauptrolle. Und jetzt startet während der Berlinale sein neuester Film "Elle" mit Isabelle Huppert.
Science Fiction ist das große Thema der diesjährigen Berlinale-Retrospektive. Warum ausgerechnet jetzt?
In Amerika sind im Moment die großen Bestseller - George Orwells "1984" und die ganzen Science-Fiction-Geschichten, die damals geschrieben worden sind - hochaktuell, weil die Leute denken, das findet gerade jetzt statt. Und das ist auch so. Wenn man diese Science-Fiction-Filme sieht - es gibt hier eine Ausstellung in der Deutschen Kinemathek in Berlin - dann erkennt man, dass die Fantasie-Filmemacher bereits sehr viele Dinge vorausgesehen haben, wie die Öko-Katastrophe in der Arktis, die einige heute noch leugnen. Viele der Fiktionen in den Filmen sind ja auch eingetroffen.
Am Ende des Festivals lassen wir es nochmal krachen, wir sehen dann "Logan" mit Hugh Jackman. Das ist ein wirklich intelligenter Science-Fiction-Film, der leider auch schon in einigen Teilen der Welt derzeit real stattfindet.
Das Gespräch führte Hans Christoph von Bock.