Stadtführung durch Neukölln
20. Oktober 2012Ein Migrantenviertel mit gewalttätigen Jugendbanden, finsteren Drogenbossen und Autoklauern – so oder ähnlich denken viele in Deutschland, wenn von "Berlin-Neukölln" die Rede ist. Schlagzeilen in der Vergangenheit über Gewalt an der Rütli-Schule oder Polizisten, die sich nicht nach Neukölln trauen, haben diesen Ruf noch verstärkt.
Laut Statistik allerdings geschehen in Berlin die meisten Straftaten woanders: in Mitte, Tiergarten und Spandau. Doch in jüngster Zeit ist Neukölln wieder ins Rampenlicht gerückt. Dafür hat der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky persönlich gesorgt, mit seinem Buch "Neukölln ist überall", in dem er die Probleme seines Bezirkes schildert. "Was meint er denn mit Neukölln ist überall? Ist das jetzt positiv oder negativ?", fragt Stadtteilführerin Gül-Aynur Uzun (im Bild oben), die von allen Gül genannt wird. Gelesen habe es hier eh keiner. "Warum soll man denn soviel Geld dafür ausgeben?" Sie freut sich, dass Neukölln trotz aller Debatten und des schlechten Rufes immer mehr Leute anzieht: Studenten und Künstler sind dort hingezogen, Kneipen haben aufgemacht, Szenecafés und Ateliers.
Stadtführung jenseits des Mainstreams
Es ist ein sonniger Herbsttag. Gül zeigt gerade einer Gruppe US-amerikanischer Studenten einige Sehenswürdigkeiten aus Neukölln. "Hier steht das Haus meiner Mutter. Sie gehörte zu den ersten Gastarbeitern hier im Kiez", erzählt die 46-Jährige. Die Gastarbeiter sind ein wichtiger Teil von Neuköllns Geschichte, ist Gül überzeugt. Sie selbst ist in Istanbul geboren. Sie war sechs, als sie mit ihrer Mutter 1972 nach Deutschland kam. "Es wurden damals ausdrücklich Frauen gesucht wegen ihrer feinen Hände", erklärt die Türkin. Eigentlich sollten die Gastarbeiterinnen für zwei Jahre kommen und am besten allein. "Meine Mutter war aber schon verheiratet und hatte drei Kinder. Es tat ihr weh, uns zurückzulassen. Deshalb hat sie uns schließlich hierhergebracht. Mein Vater blieb in der Türkei."
Neukölln - eine Oase des Friedens?
Anschließend spaziert sie mit den Studenten zu den kleinen Häuschen in der Kirchgasse. "Hier ist das böhmische Dorf", erklärt Gül. "Hier hat König Friedrich Wilhelm I. 1737 den Böhmen aus Tschechien, die wegen ihres Glaubens vertrieben worden sind, die Häuser übergeben und ihnen gesagt: Ihr könnt hier leben und Euren Glauben behalten." Berlin sei immer sehr liberal gewesen.
Gegenüber der böhmischen Siedlung erstreckt sich ein grüner, hübscher Garten an der Richardstraße: der Comenius-Garten, umrandet von einem niedrigen Holzzaun. "Fällt Euch etwas auf, was hier nicht ist?" fragt Gül die Studenten. "Es gibt hier keine Verbotsschilder", antwortet sie auf die ratlosen Gesichter hin. Das sei das Konzept des Gartenhüters und -gründers Henning Vierck, ein Wissenschaftshistoriker und Pädagoge. Seine Philosophie: Ein öffentlich zugänglicher Garten kann gepflegt und respektiert werden, ohne dass man Verbote ausspricht. Und tatsächlich scheint es zu funktionieren: Es gibt kaum einen öffentlichen Garten in Berlin, der so sauber ist. Hier werden keine Zweige abgebrochen, und auch die Früchte werden erst gegessen, wenn Vierck sie zur Verfügung stellt. Meistens jedenfalls. "Herr Vierck sieht aus wie der Großvater von Heidi. Er wird von allen sehr gemocht", erzählt Gül. Der Garten ist eine Oase des Friedens, denn "die gewalttätigen Jungs von Neukölln prügeln und pöbeln draußen, wenn sie auf der Straße sind, doch hier im Garten sind sie ganz zahm und halten sich an die nicht aufgestellten Regeln". Und der Gartenhüter höre ihnen zu, nehme sie ernst, begegne ihnen auf Augenhöhe.
Ausräumen von Vorurteilen
"Wir versuchen durch die Touren Verständnis zu vermitteln. Die Leute sollen einen authentischeren Zugang zu diesem Migrantenviertel bekommen", sagt Gründerin und Betreiberin des Kiezbesichtigungs-Projekts Gabi Kienzl. Das Projekt nennt sich "Route 44", abgeleitet von der ehemaligen Neuköllner Postleitzahl. "Es geht uns um die Frage, wer eigentlich Neukölln erklärt. Ist es immer Buschkowsky oder die Zeitung?"
Vorbei an türkischen Cafés und indischen Restaurants führt Gül die Gruppe zu der unscheinbaren Gazi Osman Pasa Moschee in einen Hinterhof des Viertels. Alle Teilnehmer ziehen die Schuhe aus und stellen sie in ein Regal am Eingang der Moschee. Im Gebetsraum der Männer lassen sie sich auf dem flauschigen, gemusterten Teppich nieder. Gül erklärt die Gebetsrituale, die Waschungen, die vor den Gebeten vollzogen werden und wie die Predigten ablaufen.
Am Ende der Führung, fast an der lebendigen und lauten Karl-Marx-Straße angelangt, sagt einer der amerikanischen Studenten zu Gül: "Diese Führung war wie zu einer Freundin zu kommen, die einem das Viertel zeigt. So persönlich." Gül freut sich über das Kompliment. Für sie ist das Herzstück der Tour die Geschichte der Gastarbeiter. Und das ist auch ein Stück von Güls eigener Geschichte. Auch deshalb führt jede Tour sie eben auch zum Haus ihrer Mutter. "Die neu Hinzugezogenen wissen oft gar nicht, warum es hier so viele Immigranten gibt." Gül zeigt zur Veranschaulichung den Pass ihrer Mutter. Die Stempel in ihm beweisen, dass sie nur in bestimmten Vierteln, wie etwa Neukölln leben durfte. Andere Gebiete waren für den Zuzug der Gastarbeiter absolut tabu. Neukölln sei heute ihr Zuhause, betont Gül. Was sie störe seien die ganzen Debatten um dieses Viertel. "Integration. Ich hasse dieses Wort. Wo soll ich mich integrieren? Deutsch kann ich ja schon." Sie freut es einerseits, dass immer mehr Studenten in Neukölln ihre WGs gründen. Das Viertel sei bunter und lebendiger geworden, auch durch die neu zu gezogenen Künstler. Andererseits habe die Popularität des Viertels die Mieten in die Höhe getrieben und viele Immigranten mit geringem Einkommen könnten sich die Wohnungen nicht mehr leisten, würden an den Stadtrand gedrängt. Gleichzeitig erfüllt die neue Beliebtheit ihres Kiezes Gül mit einem gewissen Stolz: "Bei all den negativen Schlagzeilen dachte man ja selbst irgendwann, Neukölln ist der Abschaum."