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Berlin nach Brexit unter Schock

Nina Werkhäuser, Berlin24. Juni 2016

Im politischen Berlin ist die Enttäuschung über den bevorstehenden Brexit groß. Aber das Votum der Briten wird auch als Chance für einen Neuanfang in Europa gesehen. Wie der aussehen kann, ist aber noch unklar.

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Die deutsche, britische und EU-Fahne nebeneinander (Foto: picture-alliance/dpa/G. Fischer)
Bild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

Viele deutsche Politiker trauen ihren Augen kaum, als früh am Morgen die ersten Eilmeldungen aus London kommen. Die EU ohne Großbritannien? Kaum vorstellbar, ein Schock. Enttäuschung macht sich breit in den Ministerien, den Parteizentralen und im Bundestag. "Der heutige Tag ist ein Einschnitt für Europa", kommentiert Bundeskanzlerin Angela Merkel, nachdem sie sich mit den Spitzen der Parteien und Fraktionen im Kanzleramt beraten hat. Sie hatte sich gewünscht, dass die Briten in der EU bleiben. Den angekündigten Austritt bedauert sie zutiefst.

Bestürzung in Berlin

Das sei ein trauriger, schwerer, bitterer Tag für die EU, heißt es unisono im politischen Berlin. Überall ernste, düstere Mienen, Krisengespräche. Hier und da wird Kritik am britischen Premierminister David Cameron laut - der bekomme nun die Quittung für seine europakritische Politik. Wenn eine führende Regierungspartei jahrelang schlecht über Europa rede, brauche sie sich über dieses Ergebnis nicht zu wundern, erklärt Unionsfraktionschef Volker Kauder. Insgesamt aber überwiegt das Bedauern darüber, mit den Briten einen Freund und Partner in der EU zu verlieren. "Wir dürfen weder in Hysterie noch in Schockstarre verfallen", mahnt Außenminister Frank-Walter Steinmeier, SPD.

Sondersitzungen der Fraktionen

Nach einem hektischen Morgen unterbricht der Bundestag seine Sitzung, damit die Fraktionen sich zu Beratungen zurückziehen können. Dabei wird schnell klar: Die EU wird ohne Großbritannien nicht untergehen, aber sie kann auch nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren. Wenn die Mehrheit eines Volkes sich von Brüssel nicht mehr verstanden und vertreten fühlt, dann ist etwas aus dem Lot geraten. Was genau, das gelte es herauszufinden. In diesem Sinne wird der "Brexit" in Berlin als Warnung gesehen, aber auch als Chance für einen Neuanfang.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Francois Hollande auf einem EU-Gipfel, (Foto: STEPHANE DE SAKUTIN/AFP/Getty Images)
Werden sich eng über den künftigen Kurs der EU abstimmen: Merkel und der französische Präsident Francois HollandeBild: Getty Images/AFP/T. Charlier

Regierungserklärung am nächsten Dienstag

Die Bundeskanzlerin belässt es vorerst bei einer Zustandsbeschreibung: Es gebe in allen Mitgliedsländern "grundsätzliche Zweifel" am Kurs der EU. Was genau daraus schlussfolgert, das müsse "mit Ruhe und Besonnenheit" analysiert werden, sagt Merkel und verschafft sich damit Bedenkzeit bis Anfang der Woche. Am Montag kommt Francois Hollande nach Berlin, der französische Präsident. Auf Frankreich und Deutschland wird es in der EU mehr denn je ankommen, wenn die Briten nicht mehr an Bord sind. Am Dienstag wird Merkel dann ihre Bewertung der politischen Großwetterlage in einer Regierungserklärung vortragen. Dazu kommt der Bundestag in einer eigentlich sitzungsfreien Woche zu einer Sondersitzung zusammen.

Diese Regierungserklärung wird eine Art Kompass sein für das, was die EU-Staats- und Regierungschefs anschließend auf ihrem Gipfel in Brüssel besprechen werden. Hat der erbitterte Streit über die Flüchtlingspolitik zum Nein der Briten beigetragen? Zwar steht AfD-Vizechef Alexander Gauland recht alleine da mit seiner Meinung, Merkel habe "mit ihren offenen Grenzen die Briten aus der EU getrieben". Aber dass die Rechtspopulisten in ganz Europa über das Votum der Briten jubeln, wird auf dem Gipfel sicher Thema sein.

Was muss sich ändern in der EU?

Für Merkel geht es nun, salopp gesprochen, darum, "den Laden zusammenzuhalten" und die Vorzüge der EU als Garant von Frieden und Freiheit herauszustellen. Dem Koalitionspartner reicht das nicht. "Europa muss wieder Kurs auf seine Bürger nehmen", fordert Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel. Einen Plan dafür hat er schon der Tasche, ausgearbeitet zusammen mit seinem Parteikollegen Martin Schulz, dem Präsidenten des Europaparlaments.

Darin verlangen die beiden SPD-Spitzenpolitiker, dass die EU-Kommission zu einer wirklichen "europäischen Regierung" umgebaut wird, während die hinter verschlossenen Türen stattfindenden Gipfel weniger Einfluss auf die Geschicke der EU nehmen sollen. Der künftige Kurs der EU, so scheint es jedenfalls am Ende eines dramatischen Tages, wird Deutschland noch lange beschäftigen - und auch im Bundestagswahlkampf eine Rolle spielen.