1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Zelten am Hauptbahnhof

Nemanja Rujević, z.Zt. Belgrad22. August 2015

Auf der Balkanroute gilt Serbien als einfachste Etappe für Flüchtlinge. Es ist relativ leicht, vom Süden in den Norden des Landes zu kommen. Doch ob das im Winter so bleibt? Nemanja Rujević aus Belgrad.

https://p.dw.com/p/1GJme
Serbien: Flüchtlinge rund um den Bahnhof in Belgrad (Foto: DW/N. Rujević)
Bild: DW/N. Rujevic

Offiziell heißt Ahmad in Serbien Zijad, ist vier Jahre älter und am ersten Januar geboren. So steht es in einem Papier, das die serbischen Behörden dem 17-jährigen Iraker ausgestellt haben und das ihm drei Tage Reisefreiheit im Land garantiert. Denn wenn Flüchtlinge keinen Ausweis dabei haben, schätzen die Polizisten ihr Alter und geben als Geburtsdatum den ersten Tag des Jahres ein. "Sie haben alles falsch geschrieben", beschwert sich Ahmad und einen Augenblick lang sieht es aus, als habe er keine größeren Sorgen als die Oberflächlichkeit der hiesigen Behörden. Doch die hat er ganz sicher: "Unser Land hat ein großes Problem mit Daesch", sagt er und nutzt das arabische Wort für die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). "Wen Daesch erwischt, den schlachten sie. Deswegen möchten wir nach Deutschland. Dort kann man entspannt leben."

Halal-Cevapcici und neue Buslinien

Die serbische Hauptstadt Belgrad ist ein Zwischenstopp auf der Balkanroute. Es ist die einzige Metropole entlang des Weges, in der massenhaft Flüchtlinge Pause machen, um einen Platz im Bus oder im Zug nach Subotica zu bekommen, eine an der serbisch-ungarischen Grenze gelegene Stadt. Darum sehen die beiden Parks neben dem Hauptbahnhof seit Monaten ungewöhnlich aus: Überall Campingzelte und Schlafmatten, von Leinen zwischen den Bäumen hängen an den Brunnen gewaschene Klamotten. Auch Ahmad übernachtet unter freiem Himmel. "Es war ein langer Weg vom Irak bis hier her. Mein ganzer Körper tut unheimlich weh." Mit seinen Freunden ist er nicht über Mazedonien, sondern über Bulgarien gekommen. Diese alternative Strecke benutzen etwa zehn Prozent der Flüchtlinge, die in Serbien eintreffen. "In Bulgarien ist es aber ganz schlimm. Dort haben die Polizisten uns geschlagen und mir mein ganzes Geld weggenommen."

Serbien: Flüchtlinge rund um den Bahnhof in Belgrad - Juristin Juristin Ana Trifunović (Foto: DW/N. Rujević)
Juristin Ana Trifunović berät die NeuankömmlingeBild: DW/N. Rujevic

Davon hat Ana Trifunović in den vergangenen Wochen oft gehört. Der Arbeitsplatz der jungen Juristin ist derzeit der Park, wo sie den Ankömmlingen Rechtshilfe anbietet. "Theoretisch könnten Flüchtlinge auch die Vorfälle aus Bulgarien hier melden und wir würden sie juristisch vertreten. Aber kein einziger will sich tatsächlich auf einen Prozess einlassen. Sie wollen nur weiter", sagte Trifunović der DW. Sie arbeitet für das Belgrader Zentrum für Menschenrechte, das auch mit dem UNHCR kooperiert, dem UN-Flüchtlingskommissariat. Sie verteilt Broschüren auf Arabisch und Farsi und unterrichtet die Flüchtlinge über ihre Rechte. "Wir bringen sie außerdem zur Polizeistation, wo sie Reisepapiere ausgestellt bekommen. Damit dürfen sie dann in einem Hostel übernachten."

In der Tat sind die Herbergen rund um den Busbahnhof voll. Sie bieten vor allem Familien eine Unterkunft, die es sich leisten können, etwa 10 bis 15 Euro pro Person für die Übernachtung zu bezahlen. Auch andere nutzen die Gelegenheit, um von der neuen Kundschaft zu profitieren: Gegenüber dem Park lockt ein Imbiss mit Halal-Cevapcici, die angeblich nach den Regeln des Korans zubereitet sind. Die Preise sind allerdings weniger kundenorientiert: Manche Portionen kosten umgerechnet fünf Euro, was für serbische Verhältnisse sehr viel ist. Und es ist auch die Stunde der Busunternehmen - sie haben zusätzliche Linien nach Norden eingeführt, die Tickets sind rasant schnell ausverkauft.

Hilfe im Hipster-Club

Auch Mehdi versucht, eine Fahrkarte zu ergattern. Er kommt nicht aus einem Kriegsgebiet, sondern aus dem Iran und nutzt die Gelegenheit, sich dem Flüchtlingsstrom aus den Nachbarländern anzuschließen. Der 25-Jährige sagt, sein Atheismus brächte ihn in dem schiitischen Staat in Schwierigkeiten. "Ich habe noch keine Idee, wohin ich gehen will. Mein Leben zu retten ist das wichtigste." Erst einmal möchte der junge Mann schnell weiter nach Subotica. Er habe nur beiläufig davon gehört, dass Ungarn dort gerade einen Grenzzaun errichtet. Das mache ihm Angst. "Ich gehe aber trotzdem. Ich habe keine Wahl."

Serbien: Flüchtlinge rund um den Bahnhof in Belgrad - improvisiertes Hilfszentrum (Foto: DW/N. Rujević)
Wo bisher Konzerte stattfanden, liegen jetzt Kleidungsspenden auf der BühneBild: DW/N. Rujevic

Zunächst aber kann Mehdi sich eine kurze Pause von der anstrengenden Flucht gönnen. Mit neuen Bekannten aus Afghanistan, die seine Sprache verstehen, trinkt er Saft und isst Chips in einem improvisierten Hilfszentrum unweit des Busbahnhofs. Es ist eigentlich das Außengelände eines Hipster-Clubs - aber statt Konzerten auf der Sommerbühne gibt es jetzt massenweise Klamotten, Schuhe, Essen und Getränke für Flüchtlinge. Im Minutentakt kommen Belgrader, um Sachen zu spenden. "Wir sortieren sie zuerst und geben sie dann an die Flüchtlinge weiter. Täglich kommen auch Ärzte", sagt Stefan Pavlović, der hier freiwillig hilft. Um ihn herum probieren Menschen Schuhe an, die Szene erinnert an einen Flohmarkt. Eine Mutter bemüht sich lange, etwas Passendes für ihre kleine Tochter zu finden. Es gelingt ihr schließlich - Sachen gibt es mehr als genug.

Die Belgrader kommen mit den unerwarteten Gästen ziemlich gut klar. Die zwei belagerten Parks neben dem lautem Busbahnhof und einigen Parkhäusern waren ohnehin keine beliebten Orte - außer für Freier, die in einem der Parks illegal Prostituierte für die Nacht abholen konnten. Die Passanten, die wir getroffen haben, fühlen mit den Flüchtlingen. "Ich sehe diese Leute und Kinder und möchte heulen. Die großen Probleme haben sie zur Flucht gezwungen", sagt eine Frau. Wie alle in Belgrad kennt sie sich mit Flüchtlingskatastrophen allzu gut aus - mutmaßlich 600.000 Serben flohen während der Kriege in den neunziger Jahren aus Kroatien, Bosnien oder Kosovo. "Ich selbst war nie Flüchtling, aber das muss grausam sein. Ein Mensch fühlt sich nicht mehr menschlich. Und Menschen sind alle gleich - egal ob gebildet oder nicht, egal woher sie kommen", betont die Frau.

Boden für Verschwörungstheorien

Es mangelt allerdings auch nicht an Verschwörungstheorien. Jüngst sorgte ein Abgeordneter der regierenden Fortschrittspartei für Schlagzeilen, als er behauptete, die Europäische Union plane eine Zeltstadt für 400.000 Flüchtlinge mitten in Serbien. Der Chef einer kleinen konservativen Partei gab zu bedenken, dass sich in Serbien derzeit viele Männer "im wehrfähigen Alter" aufhielten. In nationalistischen Internet-Foren verbreiten sich schnell Theorien und Behauptungen ohne Substanz.

Serbien: Flüchtlinge rund um den Bahnhof in Belgrad - Internetcafé (Foto: DW/N. Rujević)
Infrastruktur für Flüchtlinge: Internetcafés und Halal-ImbisseBild: DW/N. Rujevic

Dafür bieten die explodierenden Flüchtlingszahlen fruchtbaren Boden. Rund 100.000 Migranten haben in diesem Jahr bereits das Land durchquert - und das sind nur die registrierten. Das reguläre Aufnahmeverfahren ist längst eingestellt, denn die fünf bestehenden Flüchtlingswohnheime bieten nur Platz für etwa tausend Menschen. Trotzdem sagte der serbische Premierminister Aleksandar Vučić, sein Land werde keinesfalls einen Grenzzaun zu Mazedonien oder Bulgarien errichten. Den Zaun, den die Ungarn an der serbischen Grenze ziehen, kommentiert er bitter: "Da fehlt nur noch Strom, dann haben sie es richtig geschafft." Stattdessen kündigte der Regierungschef den schnellen Bau eines Lagers für 2.000 Menschen knapp außerhalb Belgrads an. Es soll schon im Herbst fertig sein.

Im Winter soll keiner draußen schlafen müssen, so die Beteuerungen, denn da kann es im Herzen des Balkans eiskalt werden. Schon in diesen Tagen gibt es regelmäßig Schauer und Gewitter. Dann verschwinden die Zelte aus den Parks rundum Bahnhof blitzschnell und die Menschen drücken sich unter Dachtraufen eng zusammen. Und in den kommenden Tagen, sagen die Meteorologen, wird es wohl wieder regnen.