Belgiens AKWs machen Nachbarn Sorgen
19. Januar 2016Das belgische Atomkraftwerk in Tihange ist eineinhalb Stunden Autofahrt vom Nachbarland Luxemburg entfernt. Eineinhalb Stunden oder 160 Kilometer reichen nicht aus, um den luxemburgischen Minister für Infrastruktur zu beruhigen. So kam Camille Gira nach Brüssel - zusammen mit Parlamentariern und Experten für Nuklearsicherheit und Gesundheit -, um Belgiens Innenminister Jan Jambon zu einem Meinungsaustausch zu treffen.
"Wir hatten einige Fragen zur Sicherheit von Tihange 2", sagte Giras Sprecher Olaf Münichsdorfer der DW: "Und wir wollten unseren belgischen Gesprächspartner daran erinnern, dass unsere Bürger auch gefährdet wären, wenn es dort zu einem Nuklear-Unfall kommen sollte."
Risse an der Außenhülle
Der Reaktor Tihange 2 ist seit März 2014 abgeschaltet, nachdem am Reaktordruckbehälter kleine Risse entdeckt worden waren. Im November 2015 aber sah die belgische Atombehörde "kein Hindernis", den Meiler wieder anzufahren, im Dezember ging er wieder in Betrieb.
Eine aktuelle Studie, die von den Grünen im Europäischen Parlament in Auftrag gegeben wurde, sieht das ganz anders: Der Stahl, der in den Druckbehältern verarbeitet wurde, sei von so geringer Qualität, dass der Meiler nie eine Betriebserlaubnis bekommen hätte, wenn der Materialfehler von Anfang an bekannt gewesen wäre.
Wie könne es sein, dass der Weiterbetrieb erlaubt wurde, da jetzt doch alle die Risiken kennen, wunderte sich Rebekka Harms, Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament. Eine Frage, die sich auch die luxemburgische Delegation in Brüssel stellte. "Es scheint immer noch nicht klar zu sein, woher die Risse in der Außenhülle stammen", sagte Münichsdorfer. Es seien nicht alle Fragen beantwortet worden - auch wenn das Treffen konstruktiv gewesen sei.
Aachener Bürger sind besorgt
Nicht nur in Luxemburg wachsen die Bedenken - das Wiederanlaufen von Tihange 2 hat auch im Nachbarland Deutschland große Sorgen ausgelöst. In Aachen, nur 70 Kilometer von Tihange entfernt, haben etwa 100.000 Bürger aus der Region eine Petition gegen das Anlaufen von Tihange 2 unterzeichnet - vergeblich. Aachens Behörden werden die Anwohner über die Situation aufklären, auch über Notfallpläne.
Während einer Sitzung des örtlichen Umweltausschusses, kritisierte Feuerwehr-Chef Jürgen Wolff, dass einige der von der Regierung angeordneten Notfallpläne unzureichend seien. Ein Beispiel: Bei einem Reaktorunglück wird empfohlen, so schnell wie möglich hochjodiertes Jod einzunehmen, doch es würde mehr als 24 Stunden dauern - "vielleicht sogar mehr als 48 Stunden" -, um Jodtabletten an die Bevölkerung zu verteilen, sagte Wolff der Aachener Zeitung.
Pannenserie an einem Standort
Doel bei Antwerpen - der älteste belgische Reaktorstandort macht den Bürgern in den benachbarten Niederlanden Kopfschmerzen. An den Druckbehältern von Doel 3 wurden genauso wie an Tihange 2 Risse an der Außenhülle gefunden. Doel 3 wurde vom Netz genommen und kurz vor dem Jahreswechsel wieder gestartet. Wenige Tage nach dem Wiederhochfahren nahm ihn der Betreiber Electrabel erneut vom Netz: In einer Heißwasserleitung im konventionellen Teil des Kraftwerks gab es ein Leck.
Die niederländische Ministerin für Infrastruktur, Melanie Schultz, wird Doel besuchen, zusammen mit dem belgischen Innenminister Jambon und Inspektoren der niederländischen Atombehörde.
"Selbstverständlich hat die belgische Atombehörde die Aufsicht. Unsere Inspektoren werden mehr beobachten, als die eigentliche Arbeit zu leisten", sagte eine Ministeriumssprecherin. Abschließend werde Ministerin Schultz das niederländische Parlament über die Ergebnisse informieren.
Das belgische Innenministerium, das die Aufsicht über die nukleare Sicherheit hat, gab bekannt, dass es die Kommunikation mit den Nachbarländern verbessern wolle. Belgien werde aber nicht die Kontrolle über seine Atommeiler an die Nachbarn abgeben.
Belgische Atomaufsicht schlägt Änderungen im Notfallplan vor
In Belgien selbst hat der Wissenschaftsbeirat der Atomaufsichtsbehörde - bekannt unter der Abkürzung FANK - einen Bericht herausgegeben, der vorschlägt, die Notfallpläne zu überarbeiten. Eine der Empfehlungen lautet, Jodtabletten an die gesamte belgische Bevölkerung auszugeben. Bisherige Pläne beschränken die Verteilung auf einen Radius von 20 Kilometern um die Nuklearstandorte.
Die Wissenschaftler empfehlen auch eine Verdopplung der 10-Kilometer-Sicherheitszone rund um Atomkraftwerke: Künftig sollten Menschen, die bis zu 20 Kilometer von einem Meiler entfernt wohnen, 24 Stunden in ihren Häusern bleiben und alle Fenster und Türen geschlossen halten. Im März 2015 hatte Belgiens Nationale Gesundheitsbehörde vorgeschlagen, dass Jodpillen kostenlos an alle ausgegeben werden sollten, die in einem Umkreis von 100 Kilometern lebten.
"Wir werden alle Empfehlungen berücksichtigen und einen neuen Notfallplan im Laufe des Jahres erarbeiten", verkündete eine Ministeriumssprecherin in der belgischen Zeitung Le Soir.
Verflechtungen zwischen Politik, Industrie und Aufsicht
Trotz aller Sicherheitsbedenken der Nachbarländer scheint die belgische Regierung unbeeindruckt. Jan Vande Putte von Greenpeace Belgien meint, der belgische Hauptbetreiber Electrabel habe einen starken Einfluss auf Politiker, speziell in der französischsprachigen Region Wallonie.
Das gehe auf eine Zeit zurück, als der staatliche Versorger der einzige Anbieter auf dem inländischen Energiemarkt war. "Der Einfluss hat in den vergangenen Jahren abgenommen, aber es gibt ihn noch", sagt Vande Putte. Es gebe noch eine Wechselbeziehung, die beachtet werden müsse: die zwischen der Atombehörde und dem Nuklearsektor.
Der Vorsitzende der FANK-Aufsichtsbehörde für Kernenergie, Jan Bens, hatte vorher bei Electrabel Karriere gemacht: Er hatte eine leitende Funktion im Atomkraftwerk Doel. Sein Vorgänger bei FANK, Willy de Roovere, war elf Jahre Doel-Geschäftsführer. Diese Verflechtungen machten es der Atombehörde nicht leicht, die Reaktoren aus Sicherheitsgründen herunterzufahren, meint Greenpeace-Vertreter Vande Putte: "Man müsste dann anerkennen, dass man Teil eines Teams war, das Fehler gemacht hat."