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GesellschaftEuropa

Belarussen im Exil

Ilya Koval | (Adapt.:Markian Ostaptschuk)
3. September 2020

Was verbindet einen DJ aus Minsk, einen Arbeiter aus Grodno und einen Geschäftsmann aus Brest? Sie beteiligten sich an den Protesten in Belarus und mussten ihr Land verlassen. Der DW haben sie ihre Geschichten erzählt.

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Menschen in Litauen solidarisieren sich mit den belarussischen Demonstranten
Menschen in Litauen solidarisieren sich mit den belarussischen DemonstrantenBild: Reuters/I. Kalnis

In Belarus dauern die Proteste gegen Alexander Lukaschenko an. Aber immer mehr Regierungsgegner verlassen aus Angst vor Inhaftierung und Strafverfolgung ihr Land. Die Nachbarländer Litauen und Polen gewähren ihnen Asyl. Aktivisten der Protestbewegung haben der DW erzählt, warum sie ihre Heimat verlassen mussten, ob sie zurückkehren wollen und ob sie ihren Protest bereuen.

DJ Vlad: "Strafe wegen Verleumdung angedroht"

Vlad Sokolowski saß zehn Tage im berüchtigten Minsker Okrestina-Gefängnis, nur weil er bei einem Stadtfest das Lied "Change" von Viktor Zoi gespielt hatte, das zu einem Symbol der Protestbewegung in Belarus geworden ist. Am 22. August musste Vlad das Land verlassen; heute befindet er sich in Litauen. "Ich hoffe, dass dies nur vorübergehend ist. Die litauische Botschaft bot uns schon am 17. und 18. August Hilfe an. Aber dann schien alles vorbeizugehen und wir lehnten ab", sagt Vlad.

Doch schon am 21. August bekam er einen Anruf von einem Polizisten. Er wollte Vlad zu seinen Interviews befragen, die er nach seiner Haftentlassung gegeben hatte. Vlad lehnte ab. Nur Stunden später stand die Polizei vor der Tür und nahm ihn mit zur Dienststelle. Dort wurde er vernommen, auch zu seinem DW-Interview. Darin hatte der DJ berichtet, dass der stellvertretende Innenminister Alexander Barsukow ihn in der Zelle aufgesucht, ihm eine lange Haftstrafe angedroht und ihm Schläge in den Rücken versetzt hatte. Die Polizei drohte Vlad deswegen mit einem Verfahren wegen Verleumdung.

"Dann betrat Barsukow persönlich mit einigen anderen Leuten den Raum. Einer von ihnen filmte alles mit einem Handy. Meist redete Barsukow, sehr emotional, ich konnte praktisch kein Wort sagen. Er fragte mich, ob ich bezahlt worden sei. Es lief alles darauf hinaus, dass ich mich entweder entschuldige oder er Anklage wegen Verleumdung erhebt. Ich entschuldigte mich und unterschrieb das Papier. Daran werde ich mich jetzt halten, denn ich habe Angehörige in Belarus und weiß nicht, welche Folgen das für sie haben kann", so Vlad.

Weißrussland | Vladislav Sokolowsky und Kyrill Galanov | DJs aus Minsk
DJ Vlad Sokolowski (r.) mit seinem Kollegen Kirill Galanow. Nach 10 Tagen im Gefängnis sind beide aus Belarus geflohenBild: DW/A. Boguslawskaya

Als er schließlich zusammen mit zwei Beamten den Raum verließ, traf er auf einen Mann, den er aus einer Zelle im Okrestina-Gefängnis wiedererkannte - offenbar ein verdeckter Mitarbeiter der Polizei, der mit ihm in einer Zelle gesessen hatte. "Da war mir klar, dass dies kein Ende nimmt und ich aus dem Land raus muss", sagt Vlad. Die litauische Botschaft stellte in wenigen Stunden ein Visum aus. NGOs halfen mit einer Unterkunft für die Zeit der Quarantäne. "Viele Menschen bieten mir bereits Jobs an", so der DJ.

Die schwierigste Zeit für Vlad in der Haft war, als er fünf Tage lang nicht wusste, was im Land geschieht. "Dann hörte ich einen Wärter im Korridor sagen: 'Aus euch wird man Invaliden machen, ihr werdet nicht mehr gehen können.' Die ganze Nacht hörte ich Schreie, ohne Atempause. Alle hatten Angst davor, dass jemand zur Tür hereinkommt. Dies war wohl das Schlimmste in der ganzen Zeit", beklagt Vlad.

Während der Proteste waren rund 7000 Menschen vorübergehend inhaftiert worden. Viele von ihnen wurden im Gefängnis gefoltert.

Doch Vlad ist zuversichtlich: "Wir werden nach Belarus zurückkehren, sobald es sicher ist. Ich möchte nach meiner Rückkehr arbeiten können, ohne Angst haben zu müssen."

Streikführer Jurij: "Mir war klar, dass sie mich wegbringen"

Jurij Rowowoj, ein Mitarbeiter des Düngemittel-Herstellers "Grodno Azot", war Anführer des örtlichen Streikkomitees. Gemeinsam mit seinen Kollegen verlangte er als Zeichen des Protests, die Produktion einzustellen. Am 24. August sah er sich gezwungen, nach Polen ausreisen.

"Die Entscheidung zu gehen, fiel spontan. Nach der Nachtschicht legte ich mich zur Ruhe und wurde durch ein Klopfen an der Tür wach. Die sichtbar nervöse Schichtleiterin sagte: 'Sie haben hier auf dem Flur und der Treppe Sand ausgestreut'.", berichtet Jurij. Ihm war sofort klar: Würde er jetzt hinuntergehen und den Sand wegfegen, würden ihn am Notausgang Männer in Zivil schnappen, in ein Auto zerren und wegbringen. In diesem Moment entschied er sich zu fliehen. Ein Freund brachte ihn über die Grenze nach Polen, wo Jurij um Asyl bat.

Weißrussland | Jurij Rowowoj - Mitarbeiter einer Fabrik in Grodno
Jurij Rowowoj will seiner Heimat von Warschau aus helfenBild: Privat

"Freunde halfen mir, eine Wohnung zu mieten, in der ich die vorgeschriebenen 14 Tage Quarantäne verbringen konnte. Ich weiß, was ich als Nächstes tun will: Ich möchte mit meinem eigenen Kopf und mit eigenen Händen Geld verdienen. Aber Wurzeln will ich hier nicht schlagen, in meinen Gedanken bin ich in Belarus. Sobald sich etwas ändert, fahre ich mit dem ersten Bus zurück nach Grodno", hofft Jurij.

Er bereut es nicht, den Streik angeführt zu haben. Viele um ihn seien zunächst träge gewesen, hätten aber dasselbe gewollt. "Das sind Menschen, die ihr Land verbessern wollen, auch wenn sie jetzt streiken. Jeder weiß, dass dies notwendig ist. Das wird weh tun, aber nicht lange", glaubt Jurij und fügt hinzu: "Ich denke, ich kann von Warschau aus nützlicher sein, als wenn ich mich auf dem Lande oder bei Freunden in Wohnungen verstecke."

Unternehmer Andrej: "Gut durchdachter Unterdrückungsapparat"

Andrej Woronin ist bekannt für seine Designermöbel aus Holz. Im August trat er dem oppositionellen Koordinierungsrat in Brest bei. Doch auch er musste das Land bald darauf verlassen, wie er am 26. August auf Facebook schrieb. Wo er jetzt ist, verrät er nicht.

"Als ich dem Koordinierungsrat beigetreten war, wurden ich und andere Mitglieder vor der Staatsanwaltschaft vorgeladen. Sie kamen auch in meine Werkstatt, wo sich Maschinen und Geräte befinden, fotografierten und versiegelten alles, verhörten meine Mitarbeiter und durchsuchten das Haus meiner Eltern, wo ich gemeldet bin", erzählt Andrej.

Andrej Woronin - Geschäftsmann aus Brest
Andrej Woronin warnt vor Lukaschenkos UnterdrückungsapparatBild: Privat

Dem Geschäftsmann wurde eine Haftstrafe von fünf Jahren angedroht, wegen angeblichen Verschweigens von Einnahmen in besonders großer Höhe. "Mir wurde klar, dass ich Belarus verlassen muss, um nicht als politischer Gefangener zu enden", sagt Andrej. Innerhalb von zwei Stunden packte er seine Sachen und verließ mit seiner Frau per Auto das Land. An der Grenze habe es keine Probleme gegeben.

"Lukaschenkos gesamter Unterdrückungsapparat ist gut durchdacht. Da sind nicht nur Repressionen wie die Folterungen im Ostrestina-Gefängnis. Auch Freunde und  Verwandte werden unter Druck gesetzt. Es gibt viele Methoden, um eine Person zu unterdrücken", erläutert Andrej.

Auch er bereut nicht, sich gegen das System gestellt zu haben. "Sobald Lukaschenko mit seinen Leuten verschwindet - daran zweifle ich keine Minute - werde ich sofort zurückkehren, weil ich Belarus, Brest, die Belarussen, meine Freunde und Familie liebe. Es muss Rechtsstaatlichkeit herrschen und die Menschenrechte müssen gewährleistet sein. Das ist derzeit nicht der Fall. Jetzt herrschen in Belarus Peitschen und Flinten mit Gummigeschossen", sagt Andrej.

Er glaubt nicht, dass der Protest nachlassen wird. "Ich denke, alle, die das Land verlassen mussten, werden versuchen, denen zu helfen, die geblieben sind", so Andrej. Ein Zurück gebe es für die Menschen nicht mehr.

Verhaltener Protest in Soligorsk