Begegnungen: Georg Klein in China
2. September 2006Vom Tisch in Georg Kleins Küche sieht man über die satten ostfriesischen Wiesen hinweg die beiden Deiche des Dollart bei Emden. Zuerst den alten, der bei einer Sturmflut in den 1960er Jahren brach, woraufhin ganze Dörfer zerstört wurden. Damals wurde ein zweiter Deich gebaut, angeblich einer der besten Deiche in Europa. Fast könnte man erwarten, dass Klein, der gerne Vertrautes in Unbekanntes verwandelt, im Angesicht des Deiches an die Chinesische Mauer denkt.
"Meine Chinesen"
Doch befragt nach seinen Erfahrungen und Erlebnissen seiner Reise nach China im letzten Jahr, beginnt er von anderen Eindrücken zu erzählen. Vor allem von dem einwöchigen Workshop, den er in der hierzulande unbekannten chinesischen Millionenstadt Hangzhou gehalten hat. Dort unterrichtete er chinesische Studenten im kreativen Schreiben. Die Gesichter der Studenten - Klein nennt sie "seine Chinesen"- sind es, die ihm als erstes einfallen, wenn er an China zurückdenkt:
Außer der Sprache – die Sprache war deutsch – ist es vor allem das, was man aus den Gesichtern versucht zu lesen, was die Intensität des Umgangs ausmacht. Und dieses an meine Chinesen, an meine Chinesinnen rangehen – wirklich auch im körperlichen Sinne; ich bin in dem Seminarraum nicht sitzen geblieben, sondern ich bin auf die Sprechenden zugegangen, um "Auge in Auge" zu verstehen, was jetzt im Augenblick passiert und was wir da grade machen. Und das ist das, was mich über einen langen Zeitraum hinweg am meisten beschäftigt hat und was mich bis in meine Träume verfolgt. Ich träum noch von meinen Chinesen.
Unerwartete Verständigung
Als Geschenk für seine Gastgeber hatte Georg Klein eine Geschichte geschrieben, in der er sich auf für ihn typische Weise in einer metaphernreichen, rhythmisch und klanglich durchgearbeiteten Sprache mit seinen Erwartungen an die Reise und sogar seinen Vorurteilen gegenüber den Chinesen auseinandersetzt. Ein riskantes Geschenk, handelt die Geschichte doch von einem deutschen Dichter, der bei einer Lesung in Schanghai von Chinesen, die Richard Nixon- und Marlene-Dietrich-Masken tragen, entführt wird.
Bei den chinesischen Lesern trat wider aller Erwartung keine Irritation ein. Der Effekt könnte, spekuliert Klein, bei der Übersetzung verloren gegangen sein, da nämlich deutsche Schriftzeichen in chinesische Bildzeichen übertragen werden müssen, die von jedem chinesischen Leser anders interpretiert werden. Die weitaus wichtigere Erfahrung wurde jedoch dadurch ausgelöst, dass in der Geschichte Elemente der jüngsten Vergangenheit Chinas wie z.B. die Kulturrevolution angesprochen wurden und Klein damit eine für beide Seiten unerwartete Verständigung ermöglichte:
Meine Studenten haben mir gesagt, über solche Dinge sprechen sie, wenn überhaupt, nur mit ihrem besten Freund. Und sie waren dann auch im Workshop und wenn sie zu viert oder fünft zusammensaßen, selbst verblüfft darüber, dass sie darüber sprachen. Sie sagten dann plötzlich: "Worüber sprechen wir jetzt eigentlich?" - "Jetzt sprechen wir darüber!" Das Deutsche war einerseits das Medium, das das möglich gemacht hat, aber auch wie eine Schutzkuppel, die das ganze beschützt hat.
Bücher, in denen man nichts lesen kann
Solche Wirkungen zu erzielen, Tabuthemen anzusprechen und ein Gespräch zu initiieren, ist für einen Schriftsteller natürlich berauschend. Trotzdem war – so Klein – die Grunderfahrung der Reise für ihn eine andere, eine, die er wie ein Souvenir aufbewahrt:
Um die nützliche Erfahrung der 'Demut' praktisch erneuern zu können, habe ich mir ein paar Bücher mitgebracht, in denen ich praktisch nichts lesen kann. Zum Beispiel eine Auswahl übersetzter deutscher Gedichte. In der, glaube ich, kein einziges deutsches Wort vorkommt. Ich habe mir markieren lassen, wo ein bestimmtes Gedicht von Rainer Maria Rilke steht. Diese Seite kann ich dann suchen und dieses Gedicht am Bleistiftstrich am Rand erkennen.