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Deutsche Kneipen boykottieren WM in Katar

20. November 2022

Noch nie war die Stimmung zu Beginn einer Fußball-Weltmeisterschaft so gedämpft wie jetzt. In Deutschland bislang unvorstellbar: In vielen Kneipen läuft zur WM kein Fußball.

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Mitinhaber Peter Zimmermann steht vor der Eingangstür seiner Kneipe "Lotta" in der Kölner Südstadt
Mitinhaber Peter Zimmermann vor seiner Kneipe "Lotta"Bild: Oliver Pieper/DW

Seit 27 Jahren steht die Kölner Kult-Kneipe "Lotta" für elektrisierende Fußball-Momente für die Ewigkeit. Dann, wenn der heimische 1.FC Köln in der Nachspielzeit den entscheidenden Siegtreffer erzielt, die ganze Bar schier explodiert, sich teils wildfremde Menschen siegestrunken in den Armen liegen, und das Kölsch angesichts der Gänsehaut-Stimmung in Strömen über den Tresen fließt.

Auch bei den Spielen der deutschen Männer-Nationalmannschaft war "die Lotta" mit ihren zwei Fernsehern und der Großleinwand Anziehungspunkt für Dutzende Fußball-Fans, unvergessen der kollektive Urschrei nach Mario Götzes Tor im WM-Finale 2014 gegen Argentinien.

Es muss also schon ziemlich viel passiert sein, bevor Mitinhaber Peter Zimmermann, leidenschaftlicher Fußball-Fan und seit 20 Jahren Dauerkarteninhaber bei seinem geliebten "Effzeh", sich zu einer Entscheidung durchringt, die in diesen Tagen und Wochen sehr viele Kneipenbesitzer in Deutschland fällen: Die Glotze bleibt aus Protest während der gesamten Fußball-Weltmeisterschaft in Katar aus, vom 20.November bis zum 18.Dezember, vier lange Wochen.

Zimmermann sagt: "Wir wollen ein Zeichen setzen gegen dieses durch und durch korrupte System der FIFA, wo es wirklich nur ums Geld geht, und Menschenrechte und Fußballkultur völlig egal sind. Und Katar setzt dem ganzen natürlich noch die Krone auf: die Unterdrückung der Frauen, die Diskriminierung von Homosexuellen und die katastrophalen Arbeitsbedingungen."

Kontrastprogramm in der Kölner Fußball-Kneipe

Wenn am Sonntag die WM mit dem Eröffnungsspiel Katar gegen Ecuador um 17 Uhr die WM angepfiffen wird, hat die Lotta diesmal noch zu. Am Montagabend, wenn die USA auf Wales treffen, rätseln die Gäste beim traditionellen Kneipenquiz über Fragen außerhalb des Fußballs. Und Dienstag, während Frankreich gegen Australien kickt, ist die Kneipe Schauplatz einer Podiumsdiskussion über die Situation in Katar, die Politik der FIFA und den Boykott. Es folgen Dart- und Kickerturniere, Filmvorführungen und die Möglichkeit, die WM auf der Playstation nachzuspielen. Die Protestaktion ging viral, sogar ein japanisches Fernsehteam war schon in der Kölner Südstadt.

Schild an Kölner Kneipe Lotta, auf dem Boycott Quatar steht
Dutzende Fußball-Kneipen in Köln haben sich mittlerweile der Boykott-Initiative angeschlossenBild: Oliver Pieper/DW

"Je näher die WM gerückt ist, desto mehr wurde uns klar, dass Katar der Tropfen ist, der das Fass zum überlaufen bringt und wir das nicht unterstützen wollen" sagt Zimmermann. "Im April haben wir dann unseren Boykott öffentlich gemacht und ein Transparent mit 'Boykott Katar‘ aufgehängt. Die Reaktionen waren am Anfang durch die Bank positiv, obwohl wir damals ja noch in einer Minderheitenposition waren."

Euphorie in Deutschland bleibt aus

Zimmermann selbst kann, früher undenkbar, zum ersten Mal in seinem Leben den WM-Spielplan nicht in- und auswendig. Mittlerweile hat man aber in ganz Deutschland das Gefühl, nicht eine Fußball-Weltmeisterschaft stehe vor der Tür, sondern ein Turnier der Bundesliga-Plastikclubs aus Hoffenheim, Leipzig oder Wolfsburg. Die Begeisterung hält sich allerorten spürbar in Grenzen: keine Autos mit Deutschland-Fähnchen, keine Tauschaktionen mit Panini-Sammelbildern der Spieler, keine Tippspiele im Büro. Und, auch wegen des Wintertermins, kein Public Viewing.

Die deutschen Sportfachhandelsketten Intersport und Sport2000 beklagen, dass bislang der Verkauf von WM-Trikots um bis zu 50 Prozent gegenüber der Weltmeisterschaft vor vier Jahren gesunken sei. Und mehr als die Hälfte der Deutschen überlegt laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap die WM komplett zu ignorieren.

Die Lotta hat mittlerweile auch, ganz konsequent, alle Bierflaschen mit einem Logo des FIFA-Weltpokals aus dem Sortiment entfernt. Zwar trudelt jetzt auch der eine oder andere kritische Kommentar über Instagram oder per Mail ein, in dem die Inhaber als Heuchler angegangen werden, die gleichzeitig mit Gas aus Katar ihre Kneipe heizen würden.

Aber Zimmermann bereut trotzdem keine Sekunde, die Kneipe zu einer FIFA-freien Zone gemacht zu haben. Obwohl der Umsatz in den nächsten vier Wochen sicherlich unter dem Boykott leiden wird. "Klar, die Fußball-WM ist immer ein gutes Zusatzgeschäft, vor allem, wenn Deutschland spielt. Aber wir haben unsere Stammgäste und ich hoffe, dass über unser Alternativprogramm auch andere Leute hierherkommen. Die sagen, wir mögen Fußball, aber das jetzt mit Katar ist uns einfach zu viel."

Massive Proteste gegen Katar in deutschen Fußball-Stadien

Am kommenden Dienstag wird auch Dietrich Schulze-Marmeling in die Lotta kommen. Nicht etwa als Gast, sondern als Redner. Der Autor zahlreicher Fußballbücher ist, wenn man will, so etwas wie der Mannschaftskapitän der Protestbewegung. Der eingefleischte Anhänger von Borussia Dortmund hat vor zwei Jahren die Initiative "#boycottqatar2022" ins Leben gerufen und sogar ein Buch über die Katar-Kontroverse geschrieben, und warum die WM nicht in dem Wüstenstaat hätte stattfinden sollen.

Protest gegen WM in Katar, Fans halten Schilder Boycott Quatar hoch
Fanproteste beim Bundesligaspiel SC Freiburg gegen Union Berlin am 13.11.2022Bild: Pressefoto Rudel/picture alliance

Schulze-Marmeling sagt: "Es hat mich schon überrascht, in welchem Ausmaß und wie massiv die Proteste in den letzten Wochen quasi zum Selbstläufer wurden, vor allem von den Fans an den letzten drei Bundesliga-Spieltagen. Ich glaube, da hat sich jetzt einfach über die Jahre was aufgestaut und Katar war dann für viele noch eine Nummer abstruser als Russland. Bei Russland haben viele noch gesagt, zumindest ist es ein großes Land mit einer gewissen Fußballtradition. Aber Katar mit seinen 350.000 Staatsbürgern ist für viele nur noch absurd."

Deutschland als Moral-Weltmeister?

"Nikolaus statt adidas, Pfefferkuchen statt FIFA" lautet die Devise der Boykottinitiative. Alle die, die sich dem Aufruf anschließen, sollen die FIFA mit Protestbriefen eindecken, keine Produkte mit WM-Logo kaufen und sowieso auf Reisen nach Katar und Public Viewings in Deutschland verzichten. Das hehre Ziel von Schulze-Marmeling und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern: Es dürfe nicht mehr attraktiv sein, die WM "auf diese pervertierte Art zu präsentieren und den Fußball weiter zu ruinieren." Kann er trotzdem die Menschen verstehen, die am Ende doch den Fernseher einschalten?

"Ich verurteile niemanden, ich kann das sogar sehr gut nachvollziehen. Und ob wirklich alle, die jetzt sagen, ich schaue nicht, das wirklich so durchhalten, wenn Deutschland begeisternd aufspielt? Wichtig ist aber, dass man den kritischen Blick auf das Turnier nicht aufgibt. Die Debatte muss auch während des Turniers weiterlaufen, und auch den Medien muss klar sein, dass man die Kritik nicht ausblenden darf. Wir brauchen eine Diskussion, wie wir die Zukunft des Fußballs gestalten wollen."

Dietrich Schulze-Marmeling, Autor des Buchs "Boykottiert Katar 2022" mit gestikulierender Handbewegung
"Wir haben nach Blatter gesagt: 'Schlimmer geht es nicht.' Und dann kam Infantino" - Dietrich Schulze-MarmelingBild: privat

Vor allem Deutschland mit seiner kritischen Fanszene, die immer wieder Rassismus, Homophobie und den steigenden Einfluss von Investoren anprangere, sieht der Katar-Kritiker bei dieser Debatte ganz vorne. Bei den Anhängern vieler WM-Teilnehmer spielt die Menschenrechtssituation vor Ort und die Korruption bei der FIFA dagegen kaum eine Rolle, König Fußball überstrahlt alles. Spötter lästern schon, zumindest in Sachen Moral werde Deutschland Weltmeister. Dietrich Schulze-Marmeling kann mit diesen Spitzen allerdings gut leben.

"Wenn das Thema Menschenrechte in Deutschland eine besondere Prominenz genießt, dann können wir darauf stolz sein. Bei dem Vorwurf, ihr lebt in eurer deutschen Blase, sage ich immer: 'Sorry, in anderen Ländern beginnt aber auch ein Umdenken, und die schauen eher mit einer gewissen Bewunderung auf das, was bei uns läuft.‘ Vor allem in England bekommen wir viele Anfragen, die lauten: 'Wie habt ihr das mit den Protesten geschafft? Wir würden das auch gerne machen, könnt ihr uns helfen?‘"

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur