Kleiner Tiger mit großen Plänen
25. Dezember 2018Bangladesch kommt voran und ist in vielen Bereichen so erfolgreich, dass es ein "Vorbild für Südasien" ist. Das sagt nicht die amtierende Regierungschefin Sheik Hasina, die am 30. Dezember wiedergewählt werden will, sondern das britische Wirtschaftsblatt "Economist". Denn das, was das kleine Land mit über 165 Millionen Einwohnern in den letzten zehn Jahren geschafft hat, kann sich sehen lassen. Um durchschnittlich mehr als sechs Prozent pro Jahr legte die Wirtschaft seit 2008 zu. Im vergangenen Jahr wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Bangladesch sogar um 7,3 Prozent, schneller als das von Indien oder Pakistan. Wenn man den Wechselkurs zum US-Dollar zugrunde legt, ist die Wirtschaftsleistung pro Kopf mittlerweile höher als die in Pakistan.
Der Anteil der Industrie am BIP liegt heute bei rund 30 Prozent. 1971, im Jahr der blutig erkämpften Unabhängigkeit von Pakistan, waren es im unterentwickelten Ost-Pakistan weniger als sieben Prozent. Das Land hatte 1970, als ein verheerender Wirbelsturm Hunderttausende Menschen tötete, noch nicht einmal genug Stoff, um daraus Leichentücher für die Opfer zu machen, beklagte der erste Regierungschef des neugegründeten Staates, Sheikh Mujibur Rahman. Heute exportiert Bangladesch mehr Fertigtextilien als Indien und Pakistan zusammen.
Pakistan und Indien überholt
Die Kindersterblichkeit ist niedriger als in den beiden großen Nachbarländern, in Bangladesch gehen mehr Kinder zur Schule und können lesen und schreiben, auch die Lebenserwartung ist höher. Nach den aktuellen Zahlen des Global Hunger Index, herausgegeben vom International Food Policy Research Institute in Washington, litten im vergangenen Jahr 26,5 Prozent der Menschen in Bangladesch unter Hunger. Das zeigt, welche Probleme das Land noch immer hat. Aber es sind halb so viele wie 1992 (53,6 Prozent) und mittlerweile hungern weniger Menschen in Bangladesch als in Indien (31,4 Prozent) oder in Pakistan (32,6 Prozent).
Ein Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg ist die Bevölkerungsentwicklung. Während in Pakistan die Geburtenrate nach Zahlen der Weltbank 2016 bei 3,5 Kindern pro Frau lag, rangiert die Geburtenrate in Bangladesch mit 2,1 noch unter der von Indien (2,3). "Das Land ist geradezu ein Musterbeispiel für erfolgreiche Entwicklungspolitik und steht in der Tat weit besser da als noch vor einem Jahrzehnt", sagt Wolfgang-Peter Zingel, Volkswirt am Südasien-Institut der Universität Heidelberg, im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Das Bevölkerungswachstum hat stark abgenommen, die Fertilitätsrate von 2,1 reicht knapp, um langfristig die Bevölkerungszahl zu halten. Ich würde sogar von einem weiteren Absinken der Fertilitätsrate ausgehen und noch längerfristig von einer abnehmenden Bevölkerungszahl."
Investitionen in die Infrastruktur - nicht immer mit China
Um das Land weiter zu entwickeln, hat die Regierung ehrgeizige Pläne. Dazu gehören große Infrastrukturprojekte wie etwa der Bau einer neuen Brücke über den Ganges, der in Bangladesch Padma heißt. Das mehr als sechs Kilometer lange Bauwerk, auf dem Autos, Lkws und Züge ab 2019 rollen sollen, verkürzt die Fahrtzeit zwischen dem Südosten, Norden und Osten des Landes um mehrere Stunden. Bislang muss der gesamte Privat- und Güterverkehr zwischen den durch die großen Flussläufe getrennten Landesteilen über Fähren abgewickelt werden. Der für Straßenverkehr und Brücken zuständige Minister Obaidul Quader schätzt, dass die vierspurige und zweistöckige Padma-Brücke den Handel und die Wirtschaft erheblich ankurbeln und das BIP des Landes um 1,5 bis 2 Prozent nach oben schrauben wird. Die Padma-Brücke und einige Fernstraßen-Projekte im Land werden mit chinesischen Partnern gebaut. Doch China kommt längst nicht immer zum Zuge.
"Seit die chinesische Regierung vor fünf Jahren ihr gigantisches Seidenstraßen-Projekt vorgestellt hat, liefern sich China, Indien und Japan einen Konkurrenzkampf um den Zugang zum nördlichen Golf von Bengalen", erklärt Samuel Berthet, der an der indischen Shiv Nagar-Universität lehrt. "Im April 2015 beschloss die eigentlich chinafreundliche Regierung von Bangladesch, den Bau des knapp 100 Kilometer südlich von Chittagong gelegenen Tiefwasserhafens in Matarbari Japan zu überlassen. Das chinesische Konglomerat, das zunächst mit einem ähnlichen Hafenprojekt etwas weiter südlich, in Sonadia, hätte beauftragt werden sollen, ging leer aus", so Berthet.
Grund dafür sei nicht zuletzt die Rücksichtnahme auf Indien gewesen, das im vergangenen Jahrzehnt sieben Milliarden US-Dollar in Bangladesch investiert hat, um vor allem die Verbindungen in den unterentwickelten Nordosten Indiens zu verbessern. Dass Peking Im Rahmen der "Neuen Seidenstraße" in den nächsten Jahren 30 Milliarden in Bangladeschs Infrastruktur stecken will, sieht man in Neu-Delhi mit äußerst gemischten Gefühlen. Dass Saudi-Arabien im muslimischen Bangladesch in den nächsten Jahren den Bau von 560 Moscheen finanzieren will, kommt noch hinzu.
Ungleiche Beziehungen
Für Deutschland ist Bangladesch zwar ein wichtiger Lieferant von Textilien. Trotzdem steht es bei den Importen nur an 36. Stelle. Und bei den Exporten rangiert es erst an 76. Stelle, knapp vor Liechtenstein. "Deutschland ist der größte Abnehmer von Fertigtextilien nach den USA", sagt Wolfgang-Peter Zingel. "Es sind aber keine strategischen Produkte, Bangladesch wäre leicht zu ersetzen. Es handelt sich um eine klassische asymmetrische Beziehung."
Deutschland ist für Bangladesch ein wichtiger Partner in der Entwicklungszusammenarbeit, so Zingel, das verleihe Berlin auch in den bilateralen Beziehungen ein gewisses Gewicht. "Wir sind einer der wichtigsten Geber. Bangladesch ist der Testfall, der beweisen soll, dass Entwicklungshilfe wirkt. Nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch die vergleichsweise guten Sozialdaten belegen das." Außerdem stehe Bangladesch im Vergleich zu anderen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit "relativ demokratisch da", so Zingel, es gebe Koedukation auf allen Stufen - Jungen und Mädchen werden in Bangladesch in der Regel gemeinsam unterrichtet.
Geht es nach den Plänen der Regierung, soll Bangladesch 2021, zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit von Pakistan, endgültig den Sprung aus der Gruppe der ärmsten und unterentwickeltesten Länder geschafft haben. Die Regierung hat dafür sogar ein Programm namens "Vision 2021" auf den Weg gebracht - mit dem Aktionsplan "Digital Bangladesh" als einem der Schwerpunkte.
"Neben den Fortschritten bei Bildung, Gesundheit und der Chancengleichheit der Geschlechter befindet sich Bangladesch mitten in einem Wachstumsschub, der die Armut reduziert und das Pro-Kopf-Einkommen verdoppelt hat. Die Regierung verdient Lob dafür, dass sie die wesentlichen Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass die Dynamik des Privatsektors das Wirtschaftswachstum ankurbeln konnte", meint Syed Al-Muti, stellvertretender Direktor der gemeinnützigen internationalen Entwicklungsorganisation "Asia Foundation".
"Die gute Entwicklung der letzten Jahre basiert auf drei Säulen: Der Entwicklung der Landwirtschaft, den Exporterfolgen der Textilwirtschaft und den Heimüberweisungen der Arbeiter im Ausland", erklärt Wolfgang-Peter Zingel.
Trotzdem sei das Land erheblich von der internationalen Konjunkturentwicklung und der Bereitschaft anderer Länder abhängig, Textilien aus Bangladesch zu importieren und Bangladeshis - vor allem in den Golfstaaten - zu beschäftigen, warnt Zingel. Es fehle vor allem die Diversität bei den Exporten.
Dazu kommen noch die Unwägbarkeiten der Klimaentwicklung und ihrer Folgen für Bangladesch - der Großteil des Landes liegt nur wenig höher als der Meeresspiegel.
"Dhaka ist schon heute eine der größten Städte der Welt, sie ist die größte und am schnellsten wachsende arme Stadt", so Zingel. Vom Großraum Dhaka, wo die Textilindustrie konzentriert ist, gehe allerdings auch eine ganz andere Dynamik aus, meint Zingel: "Die vielleicht fünf Millionen Beschäftigten sind zum größten Teil weiblich und stammen aus ländlichen Familien. Davon geht ein nicht zu unterschätzender sozialer und kultureller Wandel aus."
Die Chancen für Bangladeschs stehen also gar nicht so schlecht, wenn nicht, wie es der "Economist" Anfang November formulierte, die wirtschaftlichen Errungenschaften des Landes durch die oft groteske Innenpolitik ruiniert werden.