Balkan soll bei deutschem Pflegenotstand helfen
1. Dezember 2018Joana Bocaj ist 25 Jahre alt. Seit drei Jahren arbeitet sie als Krankenpflegerin in der Stadt Vlora im Süden Albaniens. Wenn es nach ihr gehen würde, dann nicht mehr lange. Sie bereitet sich darauf vor, Albanien zu verlassen und ein neues Berufsleben in Düsseldorf zu beginnen. Sie hörte von dieser Stadt von einem anderen Kollegen. "Ich denke, ich werde in Deutschland ein besseres Leben und eine bessere Zukunft finden. Wir haben hier niedrige Gehälter und niemand schätzt unsere Arbeit. Deshalb möchte ich dort arbeiten und leben."
In Düsseldorf wird sie willkommen sein. Das lange vernachlässigte Problem des Personalmangels in der Pflegebranche in Deutschland ist längst auf der höchsten politischen Ebene angekommen: Laut Koalitionsvertrag sollen bundesweit 8.000 zusätzliche Pflegekräfte eingestellt werden. Inzwischen wurde die Zahl sogar nach oben korrigiert, nun ist die Rede von mindestens 13.000 neuen Pflegern.
Reservoir der Pflegekräfte
Allerdings wird das nicht ausreichen, denn die Realität ist noch viel dramatischer: Wegen der Unterbesetzung in Pflegeeinrichtungen können viele Heimbewohner nicht adäquat versorgt werden, zurzeit sind 36.000 Stellen unbesetzt, 15.000 davon in Seniorenheimen. Noch viel größer ist der Bedarf an Pflegekräften im Rahmen der privaten häuslichen Pflege - und wird künftig weiter wachsen: Die Anzahl an Menschen, die solche Dienstleistungen in Anspruch nehmen, soll laut Prognosen bis zum Jahr 2060 von aktuell 2,86 Millionen auf 4,5 Millionen steigen.
Nun hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen Vorschlag unterbreitet, wie man der Lage einigermaßen Herr werden könnte. Er schlägt vor, die benötigten Fachkräfte im Ausland für die Pflege in Deutschland ausbilden zu lassen. "Vom Haushaltsausschuss haben wir noch einmal insgesamt neun Millionen Euro bekommen", sagte Spahn in einem Zeitungsinterview am Donnerstag.
Mit dem Geld könnten Kooperationspartner für Pflegeschulen im Ausland gefunden werden. Die künftigen Fachkräfte, so die Vorstellung des Bundesministers, sollten in ihrem Heimatland bereits Deutsch lernen. "Idealerweise sollen sie dann mit Ende der Ausbildung in Deutschland ihre Arbeit starten können", sagt Spahn. Als mögliche Länder für eine solche Kooperation nannte er Kosovo, Mazedonien, die Philippinen und Kuba.
Geförderte Entvölkerung
In den betroffenen Westbalkanländern stößt die Initiative bisher auf wenig Gegenliebe. So betonen die mazedonischen Behörden, dass solche Projekte die Abwanderung der jungen, agilen und gut ausgebildeten Menschen aus dem Land nur weiter fördern würde. Die vorgeschlagene Zusammenarbeit bedeutet in der Praxis, dass Deutschland nur die notwendigen Fachkräfte in einem Land ausbildet, damit diese das Land anschließend für immer verlassen. In einer Situation, in der die Migration aus Mazedonien und anderen Ländern der Region bereits alarmierend ist, bringen solche Lösungen für die betroffenen Länder nichts Positives.
Dass diese Gefahr real ist, zeigt auch eine kürzlich durchgeführte Studie der gemeinnützigen Organisation "Together for life" und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Albanien. Es hat sich gezeigt, dass 78 Prozent der Ärzte Albanien verlassen möchten, und 24 Prozent wollen das sofort tun. Sie nennen als wichtigste Gründe: Mangelnde Seriosität am Arbeitsplatz, unzureichende Vergütung und schlechte Arbeitsbedingungen.
Flucht vor der Perspektivlosigkeit
Ähnlich sieht es auch in anderen Westbalkanländern aus. In Serbien, Bosnien/Herzegowina oder dem Kosovo sitzen Zehntausende auf gepackten Koffern, und warten auf die erstbeste Möglichkeit, ihre Heimat zu verlassen. Vor den zuständigen Konsulaten bilden sich tagtäglich lange Schlangen von Menschen, die versuchen, ein Arbeitsvisum zu ergattern, viele Sprachschulen sind überfüllt und einige bieten inzwischen Deutschkurse auch um 23 Uhr an. Und Arbeitsvermittlungsagenturen verdienen sich zurzeit eine goldene Nase: Für die Vermittlung einer Krankenschwester bekommen sie von einigen deutschen Kliniken bis zu 5.000 Euro Prämie - die Vermittlungsgebühren bezahlen selbstverständlich die Arbeitssuchenden.
Auch in Kroatien, einem EU-Land und somit ohne Beschränkungen für den freien Verkehr der Arbeitskräfte, sind inzwischen ganze Landstriche entvölkert. Vielen geht es dabei nicht nur um die höheren Gehälter - eine große Rolle spielen die gesellschaftlichen und politische Bedingungen in ihren Ländern und eine allgemeine Perspektivlosigkeit.
Deutsche Gewinner
Aus deutscher Sicht bedeutet eine solche Arbeitsmigration doppelten Gewinn: einerseits findet man so dringend nötige Fachkräfte, andererseits kostet deren Ausbildung fast nichts oder nur wenig. So wundert es nicht, dass auch Diakoniepräsident Ulrich Lilie die Initiative des Gesundheitsministers, eine verstärkte Ausbildung der Pflegekräfte in Nicht-EU-Ländern begrüßt. "Es führt kein Weg daran vorbei, selbst zu qualifizieren, in Afrika, Fernost oder in Osteuropa", sagt er. Als Träger von Ausbildungsinitiativen kann sich Lilie neben staatlichen Stellen auch NGOs oder diakonische Einrichtungen vorstellen. Der Vorteil liegt auf der Hand: "Fertig ausgebildete Kräfte hätten einen anerkannten Abschluss, wenn sie nach Deutschland kommen."
Anders sieht es aus der Perspektive der Brain-drain-Länder aus. Fatmir Brahimaj, Präsident der albanischen Ärztekammer, weiß, dass sein Land auf einem ungeschützten Arbeitsmarkt keine echte Chance hat: "Ich weiß nicht, wo ich eine Schatulle voll Gold finden kann, um dieses Phänomen zu stoppen. Die Arbeitsbedingungen im Ausland sind vor allem der Grund, warum die albanischen Ärzte das Land verlassen wollen."
Rotationsprinzip und regionale Lösung
Im mazedonischen Gesundheitsministerium haben sie einen Vorschlag erarbeitet, der eine Win-Win Lösung sein könnte. Skopje schlägt vor, bei der Zusammenarbeit mit Deutschland ein Rotationsprinzip zu etablieren. Demnach würden die Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte vorübergehend, zum Beispiel sechs Monat, in einem Krankenhaus in Deutschland arbeiten. Dadurch würden sie ihr medizinisches Wissen verbessern, neue Erfahrungen sammeln - und auch Geld verdienen, aber dann sollten sie nach Mazedonien zurückkehren. So würde auch ihr Heimatland, das in ihre Ausbildung investiert hat, von ihrem neu erworbenen Wissen profitieren.
Außerdem, so der mazedonische Gesundheitsminister Venko Filipce, solle man die Lösung des Problems auf der regionalen Ebene suchen. "Unser Standpunkt ist, dass alle Länder in der Region gemeinsam angesprochen werden und über eine gemeinsame Zusammenarbeit mit Deutschland sprechen sollten. Dabei soll es um ein Rotationsprinzip gehen, so dass Menschen auch zurückkommen, und nicht nur weg gehen", sagt Filipce in einem DW-Statement.
Bis es so weit ist wird es aber für die Albanerin Joana Bocaj wahrscheinlich zu spät sein: Sie hat inzwischen auch ein deutsches Sprachdiplom erworben, um in Deutschland arbeiten zu können. Ihre Abreise gen Westen steht kurz bevor.