"Badawis Gedanken auch für Deutschland relevant"
30. März 2015DW: Sie sind kürzlich aus Kanada zurückgekehrt, haben Badawis Ehefrau Ensaf Haidar im Exil besucht. Haben Sie auch erfahren können, wie es Badawi selbst geht? Steht seine Frau in regelmäßigem Kontakt mit ihm?
Constantin Schreiber: Es gibt unregelmäßigen Kontakt zwischen ihr und ihm. Sie wird dann aus dem Gefängnis heraus angerufen, meistens recht spontan, und dann zu ihm durchgestellt. Dadurch erfährt er, was es Neues gibt, und sie informiert ihn natürlich auch über die vielen großen Solidaritätsaktionen weltweit. Ihm geht es körperlich und mental sehr schlecht, so der Stand von letzter Woche. Aber er sagt auch, dass er aus den internationalen Solidaritätsaktionen viel neue Kraft schöpft. Er weiß zum Beispiel auch, dass sich in Deutschland viele für ihn einsetzen - das erwähnt er sogar ausdrücklich im Vorwort zu seinem Buch. Ich denke, deshalb haben er und seine Frau sich auch dazu entschlossen, dieses Buchprojekt mit einem deutschen Verlag umzusetzen.
In arabischer Sprache sind Badawis Schriften nur noch rudimentär im Internet auffindbar - die saudischen Behörden haben das meiste gelöscht oder blockiert. Nun sind immerhin Veröffentlichungen in Englisch und anderen Sprachen geplant, die deutschsprachige Ausgabe erscheint als erstes. Warum sollen sich ausgerechnet deutschsprachige Leser für Badawis Gedanken interessieren?
Einige Themen, die er anspricht, sind auch für Deutschland sehr relevant. Wir haben hier ja inzwischen einen relativ hohen muslimischen Bevölkerungsanteil. Er setzt sich unter anderem mit der Frage auseinander, wie sich eine traditionelle islamische Lebensweise mit einer modernen Lebensweise verbinden lässt. Eine weitere Frage, die ihn neben Frauenrechten und Religionsfreiheit beschäftigt, ist die Frage nach dem Fortschritt und nach Zugang zu Wissen und Bildung. Er zieht immer wieder Vergleiche zu westlichen Ländern. Und er sagt klar: Da haben wir ein Defizit. Und das nicht nur in der islamischen Welt, sondern er bezieht das auch auf viele muslimischen Gemeinden. Das sind Fragen, die uns ja auch in Deutschland beschäftigen: Wie schaffen wir Integration auf Augenhöhe.
Alles gut und richtig - aber wäre eine arabische Ausgabe nicht viel wichtiger?
Ja, aus politischer und gesellschaftlicher Sicht wäre dies eigentlich absolut wünschenswert. Die Frage ist aber natürlich: Welche Reaktionen würde das hervorrufen? Es gibt ja eine sehr starke polarisierte Stimmung bezüglich solcher Themen in der Arabischen Welt. Es gibt natürlich einige, die wie Raif Badawi darauf hoffen, dass es dort eine Liberalisierung von Staat und Gesellschaft geben wird. Das sind Menschen, die auf eine solche Unterstützung hoffen. Aber die Gesamtstimmung wird derzeit immer konservativer. Das heißt: Die Reaktionen auf ein solches Buch in arabischer Sprache wären insgesamt wohl nicht gerade positiv. Deshalb muss sich ein Verlag oder ein Herausgeber die Frage stellen: Wie stark will ich mich mit einem solchen Buchprojekt in die Schusslinie einer solchen Diskussion begeben? In vielen Ländern haben sich Verlage um die Lizenz gerissen, in Frankreich, in Italien, Spanien und England zum Beispiel. Ein Verlag aus einem arabischen Land war bisher nicht dabei.
Sie sind der Herausgeber und haben das Buch gelesen. Was hat sie am meisten beeindruckt?
Die Texte haben eine unglaublich starke lyrische Kraft. Und sie sind abwechslungsreich. Sie schwanken munter zwischen humoristischen Elementen und sehr tiefen analytischen, komplexen Gedankengängen, insbesondere dort, wo er über den Arabischen Frühling schreibt. Beeindruckend finde ich außerdem seinen hohen Kenntnisstand zu vielen Themen über die er schreibt. Was allerdings ganz besonders auffällt, gerade wenn man sich in der Region und in der Thematik ein wenig auskennt, sind die teils sehr klaren verbalen Attacken, die er gegen den Islam unternimmt, wenn er die Religion zum Beispiel als Ursache für Dummheit oder Rückständigkeit bezeichnet. Das ist für einen jungen Mann aus Saudi-Arabien, einen Muslim, sehr ungewöhnlich. Und vor allem mutig! Ihm musste klar sein, dass dies dort sehr heftige Reaktionen bei Staat und Behörden hervorrufen wird.
Hat Raif Badawi denn auch Zukunftsvisionen?
Nicht direkt. Aber er beschäftigt sich auch nicht nur mit Islam-Kritik und Religionsfreiheit, wie man vielleicht denken könnte - das geht weit darüber hinaus. Er schreibt zum Beispiel viel über Befürchtungen, die er hat. Etwa die Befürchtung, dass immer mehr kluge Köpfe die arabische Welt verlassen und in den Westen gehen, weil sie dort freier sind und mehr Möglichkeiten haben, ohne staatliche Repression. Das ist ein immer wiederkehrendes Thema. Er schreibt aber teilweise auch über wirtschaftliche und wissenschaftliche Fragen, thematisiert Dinge aus seinem persönlichen Leben oder reflektiert sogar traditionelle Lebensweisen in Saudi-Arabien, von denen er sagt: Die sind gar nicht so strikt, wie das, was heute von den Autoritäten gefordert wird!
Das wissen wahrscheinlich tatsächlich viele deutsche Leser nicht ...
Ja, und auch deshalb ist seine Frau sehr froh, dass dieses Buch jetzt veröffentlicht wird in Deutschland. Allerdings gab es im Entstehungsprozess auch einen Vorgang, der etwas irritierend war.
Sie meinen, die in einigen Medien zitierte Empfehlung aus der deutschen Diplomatie, das Buch nicht zu veröffentlichen?
Ja. Die Empfehlung aus dem Auswärtigen Amt, das Buch nicht zu veröffentlichen, wurde damit begründet, dass dies die Freilassungsbemühungen hinter den Kulissen behindern könnte. Wir haben das sehr ernst genommen und Badawis Frau darüber informiert. Sie hat sich mit ihrem Mann beraten, und beide waren sich sehr schnell einig: Doch, dieses Buch soll veröffentlicht werden, sagten beide.
Das Buch "1000 Peitschenhiebe - weil ich sage, was ich denke" wird vom Ullstein-Verlag veröffentlicht und erscheint am 1. April. Herausgeber Constantin Schreiber ist Moderator und Chef vom Dienst beim deutschen Nachrichtensender n-tv und war früher u.a. als Korrespondent für die Deutsche Welle tätig.