Die Ostukrainer sollen entscheiden
16. April 2014Deutsche Welle: Herr Baberowski, wie interpretieren Sie dieses Zugeständnis des ukrainischen Präsidenten? Ist es der Versuch, das Heft des Handelns wieder in die Hand zu bekommen - oder eher ein Akt der Hilflosigkeit?
Jörg Baberowski: Es ist wahrscheinlich beides. Turtschinow versucht natürlich, Zeit zu gewinnen. Er weiß genau: Wenn es so weitergeht, wie es jetzt läuft, ist der Osten der Ukraine für ihn verloren. Deshalb macht er einen Vorschlag, der im Westen gut ankommt, den Russland aber niemals akzeptieren kann - und auch nicht die Demonstranten, die in der Ostukraine auf die Straße gehen. Denn sein Vorschlag lautet ja, dass alle ukrainischen Bürger über die Konföderation abstimmen sollen. Und das ist natürlich nicht das, was die Separatisten wollen. Man müsste ja eigentlich sinnvollerweise diejenigen darüber abstimmen lassen, die raus wollen, also nur die Bevölkerung in der Ostukraine.
Und es ist natürlich auch ein Akt der Hilflosigkeit, weil dem Präsidenten nichts anderes einfällt.
Wie könnte denn ein solches Referendum überhaupt aussehen? Über was genau könnte abgestimmt werden?
Ein Referendum aller Ukrainer zu dieser Frage würde zu gar nichts führen. Es würde wahrscheinlich ein Verhältnis von 60 zu 40 gegen eine solche Föderation ergeben - und damit nur die Fronten weiter verhärten. Man könnte allerdings auch eine Abstimmung in den östlichen Territorien machen, in denen es jetzt diese Unruhen gibt. Warum sollte das nicht möglich sein? Aber das will natürlich die Führung in Kiew nicht.
Das große Problem ist, dass bei allen Beteiligten das Vertrauen verloren gegangen ist. Der alte, gewählte Präsident wurde von Demonstranten aus dem Amt gejagt, auf der Krim ist das Recht gebrochen worden: Eigentlich macht jeder in der Ukraine, was er will, alle brechen die Verfassung - und so lange das so ist, wird niemand der anderen Seite vertrauen. Für dieses Problem sehe ich im Moment überhaupt keine Lösung.
Halten Sie es denn für eine sinnvolle Option, die Ukraine in einen föderalen Staat umzuwandeln?
Ich finde alle Wege sinnvoll, die dazu führen, dass sich die Lage entspannt. Zumal man alles, was man einmal entschieden hat, auch wieder rückgängig machen kann. 1991 hat ja auch eine Mehrheit der Ukrainer für die Unabhängigkeit gestimmt: nicht, weil sie große Anhänger der ukrainischen Nation waren, sondern weil sie geglaubt haben, dass sich ihre Lebensumstände verbessern, wenn die Sowjetrepubliken unabhängig sind. Jetzt hat sich die Situation geändert - warum also sollte man es nicht mit einer Konföderation probieren?
Wir haben auch in Westeuropa unterschiedliche Modelle erprobt, ohne dass es zu einem Krieg gekommen wäre. Ich erinnere an die Autonomie der Südtiroler oder an die Trennung von Tschechen und Slowaken: Dabei ist kein Schuss gefallen, und alle diese Regionen sind heute Teil der EU. Wenn das also für die Ukraine eine Möglichkeit ist und Moskau sein Einverständnis signalisiert, dann muss der Westen jetzt sagen: Die Ukraine kommt nicht in die EU, sie wird nicht Teil der NATO, sondern bleibt in einem größeren Raum, in dem auch Russland seine Rolle spielen kann. Für den Moment wäre das ein guter Weg, und vielleicht sieht es dann in fünf Jahren ganz anders aus: Wenn zum Beispiel die Ukrainer sehen, dass sie gar keinen großen Gewinn davon haben, dann kann sich die Meinung ja auch wieder ändern.
Andere sehen die Gefahr, dass die Ukraine auseinanderbrechen könnte, wenn der starke zentralistische Staat aufgegeben wird.
Das ist durchaus eine Möglichkeit. Der Souverän ist das Volk, und wenn die Mehrheit der Wähler im Osten nicht mehr Teil der Ukraine sein will, dann ist es eben so. Warum sollte man denn einen Staat erhalten, dessen Bürger ihn gar nicht wollen? Ich verstehe nicht, was daran schlimm sein soll. Tragisch sind gewalttätige Konflikte und Krieg, das ist es, was wir alle nicht wollen. Deshalb müssen wir eine Lösung finden, die genau das verhindert. Und wenn das eine Lösung dafür ist, weiß ich nicht, was dagegen sprechen sollte.
Das Interview führte Jeanette Seiffert.
Jörg Baberowski ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität. 2012 erhielt er für sein Buch "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt" den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik.