Ausweg aus der Dschihadistenszene
27. Mai 2014"Wir haben deutsche, traditionell christliche Familien aus Bayern, die in ihrem Leben noch nie etwas mit dem Islam zu tun hatten. Wir haben arabische, türkische, afrikanische Familien - wir haben alle möglichen Hintergründe", sagt Daniel Köhler über die Menschen, die bei seiner Organisation Hilfe suchen. Köhler arbeitet bei der Beratungsstelle "Hayat", die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge finanziert wird. Hayat ist Anlaufpunkt für ganz unterschiedliche Familienangehörige mit derselben Sorge: dass das Kind, der Onkel oder die Schwester in die radikal-islamistische Szene abdriftet - dass sie sich der Ideologie fanatischer Prediger öffnen und ihrem vertrauten Umfeld zunehmend verschließen.
Der Zulauf zu Bewegungen wie dem Dschihadismus ist die in Deutschland spürbare Auswirkung eines vermeintlich weit entfernten Konflikts, meint die Extremismus-Forscherin Daniela Pisoiu: "Syrien ist ein Anziehungspunkt für viele Jugendliche, die sich für den Dschihad begeistern." 320 radikalisierte Anhänger aus der Salafisten-Szene in Deutschland haben sich 2013 auf den Weg nach Syrien gemacht, schätzt das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz. Bei der Organisation "Hayat" geht man sogar von 500, vorwiegend jungen Menschen aus.
"Kein rein muslimisches Problem"
"Ähnlich wie bei Rechtsextremismus oder Linksextremismus geht es den Jugendlichen darum, eine Ungerechtigkeit zu bekämpfen. In diesem speziellen Fall ist es die wahrgenommene Unterdrückung der Muslime durch den Westen", erklärt Daniela Pisoiu. Welche Prägung die jungen Menschen anfällig macht für die Parolen der islamistischen Extremisten sei indessen weniger klar: "Die Radikalisierten kommen aus allen sozialen und Bildungsschichten. Es sind Einwanderer und auch Deutsche." Außerdem sei die Radikalisierung kein spezifisches Problem der Muslime - der beste Beweis dafür seinen die Konvertiten.
In Deutschland sind in den vergangenen Jahren verschiedene, an die Behörden angegliederte Beratungsstellen entstanden, um Jugendliche vom Weg in die salafistische Szene abzubringen - und wurden teilweise mit einer umstrittenen Kampagne beworben. Im Sommer 2012 löste die Aktion "Vermisst" des Innenministeriums eine Welle der Empörung und Vorwürfe der Stigmatisierung aus: Plakate, auf denen Menschen mit Migrationshintergrund oder Kopftuch abgebildet waren, sollten auf die Hilfsangebote aufmerksam machen.
Misstrauen gegenüber staatlichen Hilfsangeboten
Sobald der Staat ins Spiel kommt, wird das Vertrauensverhältnis zu den Hilfesuchenden auf die Probe gestellt - darauf deutet die Erfahrung von "Hayat"-Mitarbeiter Daniel Köhler hin. Seine Hilfsorganisation ist unabhängig und versteht sich in erster Linie als Anwalt der Familien, die die Radikalisierung eines Angehörigen abwenden wollen. Datenschutz und Privatsphäre seien dabei oberstes Gebot bei "Hayat", betont Köhler. Aber: "Wenn wir sehen, dass Straftaten in Planung sind, dass eine Gefährdung von Dritten droht, dann müssen wir die Sicherheitsbehörden einschalten." Zum Tragen komme dann die "Brücken-Funktion" seiner Organisation. Die sehe etwa so aus, dass die "Hayat"-Mitarbeiter die Polizei von einer Hausdurchsuchung abhalten oder die Familienmitglieder zur Kooperation mit den Behörden bewegen.
Rund 80 Fälle hat die Organisation "Hayat" seit ihrer Gründung Ende 2011 aufgenommen. Laut Köhler handelt es sich dabei meist um Familien, die sich kaum an staatliche Beratungsstellen wenden würden, etwa an das Programm "Hatif" des deutschen Verfassungsschutzes. Denn: "Die Eltern haben Angst, dass ihre Angehörigen sofort kriminalisiert werden, dass die Familien kriminalisiert werden, dass ihre Kommunikation abgehört wird, dass sie zu V-Männern oder V-Frauen gemacht werden."
Vorbild: Der Kampf gegen den Rechtsextremismus
Inzwischen gehen bei "Hayat" nicht nur Anrufe aus Deutschland ein - auch aus Österreich, Kanada oder Schweden melden sich hilfesuchende Familien oder Lehrer, berichtet Köhler. Deshalb entstehen derzeit in England, Kanada und Australien Organisationen nach dem Vorbild von "Hayat". "Hayat" in Deutschland ist nach dem Modell der Organisation "Exit" entstanden, die Familienangehörige von Rechtsextremen berät.