Ausverkauft: Der unglaubliche Fahrrad-Boom
23. Juni 2020Die morgendliche Ruhe im Fahrradgeschäft "Drahtesel" in Bonn trügt. Dicht an dicht schmiegen sich neue Fahrräder aneinander, die Regale sind gut gefüllt mit Zubehör, von Klingeln bis zu Schlössern und der wuschelige Hund des Besitzers döst friedlich vorm Kassentresen. Wer hier einkaufen möchte, muss in der Regel längere Wartezeiten einkalkulieren bis er beraten wird. Das hat sich nicht geändert. Seit der Coronavirus-Pandemie müssen die Kunden aber auch noch längere Zeiten einkalkulieren, bis ihr Wunschfahrrad geliefert wird - wenn es denn überhaupt geliefert werden kann.
Das liegt daran, dass mit dem Virus auch die neue Lust auf das Rad kam. Zwar ging es der Branche schon länger gut. In Deutschland wurden 2019 mit Fahrrädern und E-Bikes gut 4,2 Milliarden Euro umgesetzt, das war ein Plus von 34 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Nun ist die Nachfrage seit April aber noch einmal kräftig angezogen. "In Deutschland ist das Geschäft in den Monaten April und Mai recht gut verlaufen, zum Teil mit erheblichen Umsatzzuwächsen", bestätigt Dietmar Knust, Vorsitzender des Verbandes des Deutschen Zweiradhandels. Einige Händler hätten ihren Umsatz sogar verdreifachen können.
Fahrradhersteller am Limit
Auch bei Jean Franzen, dem Inhaber des "Drahtesel", brummt das Geschäft, seitdem er am 20. April sein Geschäft wieder öffnen konnte. Es könnte noch viel mehr brummen, wenn da nicht der Engpass auf dem Fahrradmarkt wäre.
"Wir bekommen sehr, sehr viele Fahrräder für dieses Jahr schon nicht mehr", erklärt Franzen, "die sind beim Hersteller ausverkauft." Und nicht nur das, auch Ersatzteile seien nicht mehr einfach zu bekommen, so Franzen. Schlösser, Sättel, Reifen - "Artikel, die man normalerweise in drei bis vier Tagen hat, wenn man sie nachbestellt, sind jetzt auf einmal nicht mehr verfügbar."
Spurensuche auch beim Fahrradhersteller "Stevens" aus Hamburg. Man befinde sich seit Mai in einer Ausverkauf-Situation, berichtet Volker Dohrmann, der dort die Bereiche Strategie, Produkt und Marketing leitet. Nach dem sprunghaften Anstieg der Nachfrage im April seien inzwischen die Lager-Vorräte für die meisten 2020er Modelle leer. "Wir haben jetzt eine kleine Durststrecke, bis die 2021er Modelle im Herbst kommen", sagt Dohrmann, der schon bei der Gründung von Stevens Anfang der 1990er Jahre dabei war. Die Orderzahlen über den Mai hinweg seien größer gewesen als in jedem anderen Monat der letzten 20 bis 30 Jahre.
Das gelte nicht nur für "Stevens", sondern "auch für andere Fahrradmarken, für andere Länder. Ich habe so etwas gehört aus den USA, aus Benelux, aus England", so Dohrmann. In den USA seien in den letzten beiden Monaten so viele Fährräder verkauft worden wie zuletzt in den 1970er Jahren während der Ölkrise, heißt es auch von Joy Townley von der Beratung "Human Powered Solutions".
E-Bike-Produktion kompliziert
Leider läuft dieser Nachfrage-Boom zum Teil nicht nur an den Händlern vorbei, weil sie die Fahrräder nicht liefern können, sondern auch teilweise an den Herstellern, denn die können ihre Produktion nicht so kurzfristig hochfahren. Zwischen der Bestellung bei den Zulieferern und der Auslieferung bei den Produzenten vergehen zwischen sechs und zwölf Monaten. Das liegt daran, "dass es so etwas wie Monopolisten bei Komponenten, bei Motoren, bei Rahmenbauern gibt", erklärt Dohrmann. "Deren Produktion ist ausgebucht und die haben Wartelisten."
Der lange Vorlauf liegt auch daran, dass immer mehr Kunden elektrische Unterstützung beim Radeln haben wollen. Ein Drittel der in Deutschland verkauften Fahrräder sind inzwischen E-Bikes - und deren Produktion ist kompliziert.
"Wir haben E-Bike-Rahmen mit integriertem Akku, mit Vorrichtungen für die ganzen Kabel, für die Elektronik und für den Motor. Diese Rahmen sind in der Herstellung manchmal doppelt oder dreimal so aufwendig wie ein normaler Fahrradrahmen", erklärt Dohrmann. "Eine insgesamt höhere Nachfrage nach Fahrrädern und eine zunehmende Komplexität in der Produktion, das bremst natürlich Output und Geschwindigkeit."
Nicht alle Fahrradhersteller haben Produktion zurückgefahren
Immerhin hat die Corona-Pandemie bei "Stevens" nicht die Produktion beeinträchtigt. "Wir haben einfach beschlossen, weiter zu produzieren", erzählt Dohrmann. "Die Vorräte von den Zulieferern reichten ungefähr noch für vier bis sechs Wochen. Wir hatten also noch genug Ware." Zudem hätte es keine Krankheitsausfälle in den eigenen Fabriken und bei den asiatischen Lieferanten gegeben. Die hätten nach dem Chinesischen Neujahrsfest im Februar wieder produzieren können.
Manche anderen Radhersteller hätten ihre Produktion dagegen herunter gefahren oder stillgelegt, um nicht auf Halde zu produzieren. "Die haben jetzt natürlich das Problem, dass sie noch länger brauchen, um wieder in den Tritt zu kommen", so Dohrmann. Einer dieser Hersteller ist der Traditionshersteller Diamant im sächsischen Hartmannsdorf. Man habe die Produktion in dem Werk mit 500 Mitarbeitern nicht komplett aussetzen müssen, wohl aber Kurzarbeit angemeldet. "Wir waren natürlich auch über gestörte Zulieferketten aus Asien betroffen", berichtet Manager Thomas Eichentopf.
Noch viel mehr Probleme haben beispielsweise Fahrradhändler in den USA. Rund 90 Prozent der dort verkauften Fahrräder werden aus China importiert, so Branchenexperte Townley. Entsprechend ist dort der Nachschub zusammengebrochen, weil die Produktion in China zum größten Teil heruntergefahren worden war und gerade erst wieder anläuft. Da zudem Fahrräder aus China mit einem Strafzoll von 25 Prozent belegt worden waren, hatte in den USA niemand mit einem Nachfrageboom gerechnet.
Zu viel Vielfalt?
Für die Händler in Deutschland sind die jetzigen Lieferschwierigkeiten kein ganz neues Problem. Unter Verzögerungen litten sie schon in den letzten Jahren immer wieder. Während ein Mitarbeiter bei "Drahtesel" gerade ein neues Fahrrad aus dem Versandkarton auspackt, sagt Franzen: "Wir haben jetzt Räder bekommen, die wir im August bestellt haben! Die waren damals aber für "sofort" bestellt und nicht für irgendeinen Termin im Frühjahr."
Wie es dazu kommen kann, erklärt Dietmar Knust vom Verband des Deutschen Zweiradhandels. Die meisten Räder würden von den Händlern auf der Messe Eurobike im September vorbestellt, so Knust. Die gewünschten Räder würden dann ab Januar und in den folgenden Monaten geliefert. Entsprechend der Vorbestellungen im Herbst planen die Hersteller ihre Jahresproduktion.
"So kommt es auch in normalen Jahren im Februar, März vor, dass das eine oder andere Rad nicht mehr zu bekommen ist", sagt Franzen. Alle Modelle auf Lager kann er aber nicht haben, dafür ist die Modellvielfalt einfach zu groß. Ansonsten müsste er allein vom Elektrorad-Hersteller Flyer über 100 Fahrräder auf Lager haben, wenn er von jedem Modell in jeder Ausführung ein Rad im Geschäft haben wollte. Und Flyer ist nur eine von 20 Marken, die es beim 'Drahtesel' theoretisch zu kaufen gibt. "Wir sind darauf angewiesen, dass die Industrie auch nachliefern kann."
Während Franzen damit rechnet, dass sich sein Geschäft im Herbst wieder normalisiert, hofft man bei "Stevens" darauf, dass der Boom nicht so schnell wieder abflacht. Die Produktion soll im kommenden Jahr weiter ausgebaut werden. Allerdings könnten die Rahmenbauer, die Gabelhersteller, die Motoren- und Komponentenhersteller ihre Produktion nicht innerhalb von einem halben oder einem Jahr hochfahren, so Dohrmann. So setzt auch längerfristig die Kapazität der Zulieferer den Hamburgern eine Wachstumsgrenze.
In einer früheren Version waren in der Infografik die Umsätze durch Fahrradverkäufe in Deutschland in Millionen statt Milliarden Euro angegeben. Die Redaktion bittet den Fehler zu entschuldigen.