Das größte Match aller Zeiten
27. Januar 2017Das größte Tennis-Match aller Zeiten? Vielleicht fand es 1980 statt. Vielleicht war es das Finale damals in Wimbledon. Als der Schwede Björn Borg auf den US-Amerikaner John McEnroe traf. Und ein unfassbar langer Tie-Break im vierten Satz für den Amerikaner ausging: 18:16. Alle an der Londoner Adresse SW19 dachten, nun sei Borg am Boden zerstört. Doch er schlug zurück, gewann den fünften Satz und damit das Match.
Er konnte nicht mehr laufen
Er sei am Ende ganz entspannt gewesen, erzählte der Schwede später. Dabei hat er stets wenig erzählt.
Oder 2010? Zweite Runde der US Open: Andre Agassi, der Liebling der New Yorker, hatte schon angekündigt, dass dies sein letzter Auftritt in bei seinem Lieblingsturnier sein würde. Und dann kommt ein Mann aus Zypern namens Marcos Baghdatis und fordert ihn, den 36-jährigen, bis an die Schmerzgrenze. Ein klassischer Moment der Tennis-Geschichte, als Baghdatis am Ende, von Krämpfen geschüttelt, nicht mehr laufen kann und sich immer wieder auf dem Schläger abstützt. Der Schiedsrichter verwarnt ihn sogar, weil er nicht weitermacht. Das Ende: 6:4, 6:4, 3:6, 5:7, 7:5 für Agassi. Ganz New York jubelte in dieser Nacht.
Tennis auf der großen Grand-Slam-Bühne erzählt solch wunderbare Geschichten. Die des jungen Boris Becker oder des perfekten Pete Sampras, wegen seines Aufschlags "Pistol Pete" genannt. Novak Djokovic, Andy Murray, alles Giganten dieses Sports. Aber die wunderbarste Geschichte ist die der Rivalität zwischen einem Perfektionisten aus der Schweiz und dem kraftvollen Revoluzzer aus Spanien: Roger Federer gegen Rafael Nadal.
34-mal sind die beiden bereits auf der Tour gegeneinander angetreten. Es steht 23:11 für Nadal. 2008 war es, als sich der Mann aus Mallorca im ärmellosen Hemd - etwas schockierend für die Herren des All England Lawn Tennis Club, aber immerhin war das Shirt blütenweiß - nach einem gigantischen Match auf den Rasen in Wimbledon sinken ließ. Das Ergebnis nach vielen Stunden und Regenunterbrechung: 6:4, 6:4, 6:7, 6:7, 9:7. Für Nadal. Im Jahr zuvor noch hatte Federer gewonnen.
Diese ganzen Ergebnisse, zu viele Zahlen für eine gute Geschichte? Mag sein. Aber: Haben Sie, verehrter Leser, schon einmal fünf Stunden am Stück alles aus ihrem Körper herausgeholt? Na bitte, sehen Sie…
Der Mann aus Mallorca hat einmal für ein Porträt, das die Macher der Australian Open gedreht haben, beschrieben, was sein physisches Spiel ausmacht. "Pain" (Schmerz) ist der Titel des kurzen Films, der mit einem Bild von Bandagen und Pflasterrollen beginnt. "Ich bin seit langer Zeit daran gewöhnt, mit Schmerzen zu spielen", sagt Nadal, der sich stets bis ans Ende quält. Von seiner schweren Knieverletzung, die ihm fast die Karriere nahm, war da gar nicht die Rede.
"It keeps the fire burning"
Und Federer? Auch da haben die Organisatoren in Melbourne einen Film gemacht, in dem Federer, der Großmeister, in zweieinhalb Minuten alles über sich und dieses Spiel erzählt. "Expectation", heißt er. Die Erwartungen der Fans, aber auch die Erwartungen des Sportlers an sich selbst, "in druckvollen Situationen" das Beste zu geben. Darauf komme es an. "It keeps the fire burning", drückt Federer das aus, und am Ende hört man die Fans seinen Vornamen kreischen. Wie überall auf der Welt, wo er hinkommt.
"Sieht man Roger Federer live spielen, ist das so etwas wie eine 'religiöse Erfahrung'", hat einmal David Foster Wallace geschrieben. Der Kalifornier begann selbst als Tennis-Profi und wurde später als Romanautor ("Unendlicher Spaß") weltbekannt, bevor er sich, krank an Depressionen, das Leben nahm. Über die Unsterblichen des Sport notierte er: "Man könnte diese Sportler als Genies oder Mutanten oder übernatürliche Wesen bezeichnen. Federer wirkt nie gehetzt, verliert nie die Balance. Seine Bewegungen sind eher harmonisch als athletisch. Genau wie Ali, Jordan oder Maradona, wirkt er realer und zugleich irrealer als seine Gegner. Federer in Weiß auf dem Wimbledon-Rasen ist wie ein Wesen aus Fleisch und Licht."
Ein Wesen aus Fleisch und Licht
Das "Wesen aus Fleisch und Licht" gilt inzwischen als der Sportler mit dem höchsten Marktwert weltweit. Werbepartner: die teuersten Uhren, die besten Autos, guter Kaffee, Wilson, Nike, Moet & Chandon-Champagner, Schokolade aus der Schweiz und und und…
Roger Federer ist jetzt 35 Jahre alt. Gattin Mirka (einst seine Mixed-Partnerin) und er haben vier Kinder, zwei Zwillingspaare. Gerade ist Federer ebenfalls nach einer langwierigen Knieverletzung wieder zurückgekehrt. In allen Interviews, die der Meister gibt, betont er, wie viel Spaß ihm Tennis macht. Er liebt diesen Sport - und mit seinen Trainern Stefan Edberg (früher), Ivan Ljubicic (heute) oder Severin Lüthi (eigentlich immer) kann er den ganzen Tag fachsimpeln. Dass so viele behaupteten, er sei inzwischen zu alt für einen großen Titel, hat ihn (wenigstens nach außen) nie irritiert.
Im Halbfinale der diesjährigen Australian Open brauchte sein Gegner Rafael Nadal 4 Stunden 58 Minuten, bis er seinerseits Herausforderer Grigor Dimotrow aus Bulgarien niedergerungen hatte. Ein brillantes Match, "das beste Spiel der Australian Open", jubelte Boris Becker vor dem "Eurosport"-Mikrophon. Und wieder war es ein Spiel mit so vielen Zahlen: 6:3, 5:7, 7:6, 6:7, 6:4. Der überglückliche Nadal sagte hinterher mit Blick auf Federer: "Er hatte seine Verletzungen, ich hatte meine Verletzungen. Wir hätten nie gedacht, dass wir wieder zurückkommen auf die große Bühne." Es war inzwischen weit nach Mitternacht. Kaum jemand wollte die Rod-Laver-Arena verlassen.
"Zurückkommen auf die große Bühne"
Natürlich werde er sich Rafa vorher im TV ansehen, hatte Roger Federer tags zuvor erklärt. Er weiß genau: Das beste Spiel aller Zeiten, das gibt es gar nicht. Denn es kommt immer noch ein besseres.
Vielleicht ist es am Sonntag wieder soweit.