"Kollektivstrafen sind kontraproduktiv"
14. September 2022DW: Krawalle beim Conference-League-Spiel der Kölner in Nizza, Randale beim Champions-League-Spiel der Frankfurter in Marseille. Haben wir ein neues Hooligan-Problem im europäischen Fußball?
Harald Lange: Ich würde nicht gleich von einem neuen Hooligan-Problem sprechen. Das Hooligan-Phänomen war eines der 1980er, 90er und frühen 2000 der Jahre. Jetzt haben wir es mit einem ähnlichen Phänomen zu tun: mit gewaltbereiten Fußballfans, auch aus deutschen Klubs - aber wie die beiden angeführten Spiele zeigen, insbesondere auf französischer Ebene. Die erste französische Liga hat ein massives Gewaltproblem. Es war zu erwarten, dass es auch in die UEFA-Wettbewerbe überschwappt.
Also würden Sie es eher als ein nationales Problem des französischen Fußballs und der Sicherheitsbehörden dort einstufen?
Nein, damit würde man das Problem ein Stück weit wegschieben, und das wäre nur ein Teil der Wahrheit. Fakt ist ja, dass deutsche Fans mitgemacht haben. Insbesondere in Nizza sind auch aus dem Kölner Block heraus Fans auf die Ehrentribüne gestürmt und dann weiter in Richtung der Nizza-Fans, um dort zu provozieren und auch Gewalttaten zu verüben. Vom Spiel der Eintracht in Marseille habe ich gehört, dass sich die Frankfurter Fans massiv unter Druck gesetzt und angefeindet fühlten. In Gesprächen mit mir rechtfertigten sie sich mit den Worten: "Wir haben einfach zurückgeschlagen." Nichtsdestotrotz haben sie sich provozieren lassen, und es gab viele unschöne Szenen, an denen sie beteiligt waren. Daraus muss man auch Konsequenzen ziehen.
Einige Eintracht-Fans zeigten den Hitlergruß. DFB, DFL und die deutschen Profivereine haben sich in den letzten Jahren deutlich von der rechtsextremistischen Szene distanziert. Muss man damit rechnen, dass sich das Problem von Neonazis im Stadion wieder verschärft?
Soweit ich weiß, fielen zwei Frankfurter Fans auf diese Art auf. Einer von ihnen meldete sich noch in der Halbzeitpause beim Fanbeauftragten der Eintracht, zeigte Reue und beteuerte, kein Rechtsradikaler zu sein. Aufgrund des Fotomaterials aus den sozialen Netzwerken dürfte auch der zweite Eintracht-Anhänger innerhalb kurzer Zeit identifiziert werden, sodass man diese Einzelfälle jetzt sehr gut bearbeiten und ahnden kann. Das halte ich für den richtigen Weg. Auch dass der Vorstand des Klubs noch während des Spiels unmissverständlich Stellung bezogen hat. Gerade bei Vorfällen mit rechtsradikalem Hintergrund muss man Flagge zeigen. Das machen die Offiziellen im deutschen Fußball, und das ist nur zu begrüßen. So erstickt man aufkommende Phänomene in diese Richtung quasi im Keim.
Beim Spiel der Kölner in Nizza wurden auch Gewalttäter aus dem Umfeld von Paris St. Germain und Borussia Dortmund gesichtet. Haben die gewaltbereiten Kräfte die Corona-Zeit genutzt, um sich neu zu vernetzen?
Diese Verbindung zwischen gewaltbereiten Fans aus Köln, Dortmund und Paris ist seit langem bekannt. Ich würde das Ganze nicht zu sehr hochkochen. Als diese Randalierer im Stadion Nizza wieder zurück in den Kölner Block wollten, um dort unterzutauchen, haben die echten Fans unmissverständlich Flagge gezeigt. Sie haben versucht, ihnen die Sturmmasken herunterzuziehen, um sie als Straftäter identifizieren zu können. Und sie haben gerufen: "Wir sind Kölner und ihr nicht." Vor drei, vier oder fünf Jahren war es noch gang und gäbe, dass Gewalttäter im eigenen Fanblock untertauchen konnten, egal, was sie ausgefressen hatten. Dieses Prinzip gilt nun nicht mehr.
Wie sollte der Fußball auf die Gewaltausbrüche reagieren?
Man muss dieses Moment nutzen, dass sich die Fankultur von Gewalttätern distanziert und auch bereit ist, an der Aufklärung mitzuwirken. Auf keinen Fall sollten Kollektivstrafen ausgesprochen werden. Damit würde man diesem neuen Prinzip quasi den Boden unter den Füßen wegziehen. Man muss jetzt die Fanszene für Gewaltprävention gewinnen. Die Bedingungen dafür waren noch nie so gut wie jetzt, weil die Fankultur insbesondere in den vergangenen drei, vier Jahren ganz deutlich an ihrem Wertekompass gearbeitet hat. Das gilt auch für Fehlverhalten aus den eigenen Reihen, insbesondere was den unkontrollierten Einsatz von Pyrotechnik betrifft.
Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass die Gewalt auch wieder in deutschen Stadien Einzug hält?
Die Gefahr von Gewaltausbrüchen ist immer gegeben. Manchmal reichen Zufälle aus, damit die Stimmung auf den Rängen überkocht und eskaliert. Aber wir haben das in der Bundesliga seit vielen Jahren sehr gut im Griff. Der Stadionbesuch wird immer sicherer. Ich erwarte für die nächsten Spieltage keine Gewalteskalation aufgrund der Vorkommnisse im Europapokal - auch wenn am kommenden Samstag das Derby zwischen Dortmund und Schalke auf dem Programm steht. Ich glaube eher, dass sich alle Beteiligten darüber freuen, dass die Schalker wieder da sind und dass die Fans aus beiden Lagern endlich wieder ihr geliebtes Derby haben. Auf internationaler Ebene, insbesondere bei Spielen gegen französische Mannschaften, müssen wir allerdings mit weiteren Ausschreitungen rechnen.
In welcher Verantwortung sehen Sie in diesem Zusammenhang die UEFA?
Sie ist dafür verantwortlich, das Phänomen der Gewalt im Umfeld der Europapokalspiele anzugehen. Die UEFA wäre jetzt gut beraten, in die Ligen zu schauen, die ihr Gewaltproblem gut in den Griff bekommen haben, sprich in die Bundesliga. Ich gehe allerdings davon aus, dass die UEFA mit einer Machtdemonstration reagieren wird, nach dem Motto: eine harte Strafe für die betreffenden Vereine, dann haben wir unsere Pflicht getan. Das hat aber mit echter Gewaltprävention nichts zu tun. Die UEFA müsste mit viel Fingerspitzengefühl auf die Fanszene zugehen. In den vergangenen Jahren hat sie aber genau das Gegenteil unter Beweis gestellt. Der europäische Verband sieht die Fans im Grunde als Melkkühe - um im Stadion für Atmosphäre zu sorgen und Profit zu machen. Wenn die UEFA jetzt den Klubs Kollektivstrafen aufbrummt, stößt sie die Fans einmal mehr vor den Kopf. Das Ergebnis ist Frustration. Und die Fans werden sagen: "Dann seht mal zu, wie ihr euer Gewaltproblem in den Griff kriegt."
Professor Harald Lange (Jahrgang 1968) hat seit 2009 den Lehrstuhl für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg inne. Lange gründete Anfang 2012 das bundesweit erste Institut für Fankultur. Seit dem Frühjahr 2020 läuft dort das Projekt "Welchen Fußball wollen wir?" (vierzunull.de), das ein Forum für alle Protagonisten des Fußballs bieten soll.
Das Interview führte Stefan Nestler.