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Ausgangssperre: Unterwegs bei Nacht in Köln

22. April 2021

In fast ganz Deutschland herrscht nachts bald Ausgangssperre. In Köln ist nächtliches Spazierengehen schon jetzt verboten. Doch nicht jeder hält sich an die umstrittene Maßnahme.

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Deutschland Coronavirus l Nächtliche Ausgangssperre in Köln
Bild: Mika Volkmann/picture alliance

Um 20.20 Uhr wird die Polizei vor dem Kölner Dom langsam ungeduldig. Wer jetzt nicht aufbricht, der wird wohl nicht vor Beginn der Ausgangssperre um 21 Uhr zu Hause sein. Doch noch wird getanzt auf der Domplatte, dem Platz im Schatten der gotischen Kathedrale. Eine junge Frau im blauen Blazer dreht sich im Kreis, aus einem Lautsprecher tönt blechern Musik.

Es ist ein wilder Mix. Das Volkslied "Die Gedanken sind frei" ist dabei. Bob Marley singt im Redemption Song von Freiheit, dann die Beastie Boys mit "Fight for your right to party". Für die Musikauswahl verantwortlich ist Ben, 36 Jahre alt. Mit einigen Dutzend Mitstreitern demonstriert er hier gegen die Ausgangssperre, die in Köln bereits seit dem vergangenen Wochenende in Kraft ist.

Ausgangssperren bald im ganzen Land

"Party ist nicht mein Kernanliegen", sagt Ben der DW. "Und mit vielen Maßnahmen kann ich auch mitgehen, aber nicht mit einer generellen Ausgangssperre." Die sei nämlich unverhältnismäßig und ihr Nutzen wissenschaftlich umstritten. Ein Polizist tritt an Ben heran, redet auf ihn ein, fordert ihn auf, die Versammlung nun zu beenden. Die Musik ebbt ab, zögerlich verlassen die Letzten die Domplatte. Nur die Tauben bleiben zurück.

Deutschland Coronavirus l Ausgangsperre in Köln - Demonstration
Versammlungsleiter Ben (links) vor dem Kölner DomBild: Peter Hille/DW

Wer sich nun, nach 21 Uhr, draußen aufhält und dafür keinen triftigen Grund angeben kann, etwa, dass er auf dem Weg zur Arbeit ist, der muss mit 250 Euro Bußgeld rechnen. Wie viele andere Städte und Kommunen in Deutschland will Köln so die Ausbreitung des Coronavirus verlangsamen. Lange wurde gestritten, ob es im ganzen Land solche Ausgangssperren geben soll. Mit der "Corona-Notbremse" wurde nun beschlossen: wo im Mittel von sieben Tagen mehr als 100 von 100.000 Einwohnern infiziert sind, da herrscht ab 22 Uhr Ausgehverbot. Das betrifft momentan 85 Prozent aller Landkreise in Deutschland. Noch ist die bundesweite Notbremse nicht in Kraft. Deshalb gilt in Köln noch 21 statt 22 Uhr als Sperrstunde.

Draußen oder drinnen

Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker hatte bereits vergangenen Samstag die Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr verhängt. Deshalb hasten in der Kölner Innenstadt kurz vor 21 Uhr die letzten Kunden aus den Supermärkten, eine Tüte Milch unterm Arm, oder einen Sechser-Pack Bier.

Dimitri, Andreas und Tim scheinen es weniger eilig zu haben. Die drei Freunde haben sich Getränkedosen geholt und es sich an einem Betonmäuerchen zwischen vierspuriger Straße und Supermarkt gemütlich gemacht. Mit Whiskey-Cola, Moscow Mule und Energy-Drink mit Wodka prosten sie sich zu, als es 21 Uhr schlägt. "No risk, no fun", sagen sie. Und: "Ist doch besser, als wenn wir uns drinnen treffen." Um sie herum wird es langsam einsam, nur noch wenige Autos rauschen vorbei. Auch die drei Freunde wollen gleich heimgehen, sagen sie.

Mit Rad und Rucksack

Die Straßen gehören jetzt ganz den Essens-Boten, die in knallbunten Klamotten und mit klobigen Rucksäcken auf Fahrrädern unterwegs sind. Wen die leer gefegte Stadt in Endzeitstimmung versetzt, der dürfte in den Lieferando-Radlern apokalyptische Reiter sehen. Leon ist einer von ihnen. Der 19-Jährige im orangefarbenen Outfit liefert gerade zwei Portionen vom China-Restaurant an Gäste des Hilton-Hotels beim Hauptbahnhof.

Deutschland Coronavirus l Ausgangsperre in Köln, Fussgängerzone
Leergefegt: die Kölner Innenstadt am AbendBild: Peter Hille/DW

"Ich habe eine Bescheinigung meines Arbeitgebers, dass ich dienstlich unterwegs bin", sagt er. "Aber ich wurde bislang noch nicht von Polizei oder Ordnungsamt angehalten." Leon ist mit der Schule fertig, würde gerne eine Ausbildung zum Elektriker beginnen. Das jedoch ist nicht so leicht in Pandemie-Zeiten. "Deshalb brauchte ich einen Übergangsjob", sagt er. "Immerhin geben die meisten Leute Trinkgeld."

"Wir müssen alles tun"

Es ist jetzt 22 Uhr und die Stadt fühlt sich an, als wäre es drei Uhr morgens. Am Brüsseler Platz hört man den Wind durch die Platanen rauschen, so still ist es. Normalerweise ist das hier ein Party-Hotspot, Anwohner klagen seit Jahren über den Lärm der Feiernden. Nun läuft nur ein älterer Mann mit Hund über den Platz. Nicht mal der bellt. Gassi gehen ist auch nach 21 Uhr trotz Ausgangssperre erlaubt. "Wir brauchen diese Maßnahme", sagt der Mann. "Wir müssen alles tun, damit die Zahl der Infizierten zurückgeht." Der Hund macht sein Geschäft, die beiden gehen nach Hause.

Aus einem Taxi in der Mitte des Platzes flackert blaues Licht. "Das ist alles richtig traurig", sagt Arta, der Taxifahrer, nachdem er seine Scheibe heruntergelassen hat. Er schaut gerade japanische Anime-Filme auf dem Tablet. Kunden? Fehlanzeige. "Vor der Ausgangssperre ging es noch einigermaßen, aber jetzt geht es völlig den Bach runter." Er mache sich Sorgen um seine Existenz. "Ich habe mittlerweile die Hoffnung aufgegeben", sagt Arta und taucht wieder ein in die Welt des jungen Ninjas Naruto.

"Das ist nicht verhältnismäßig"

Vier Straßen weiter, am Friesenplatz, ist das wilde Blinken der Leuchtreklame eines Kiosks das einzige Zeichen von Leben. Wenn man näherkommt, erkennt man, was hier blau, rot und gelb aufleuchtet: "Open 24 hrs". Doch die Tür ist geschlossen, mit Zeitungsständern von Innen verrammelt. Neben dem Kiosk steht ein fünfgeschossiges Bürohaus, verkleidet mit Marmorplatten. Hier, irgendwo hinter den dunklen Fenstern, liegt das Büro von Carsten Brennecke. Der Anwalt der Kanzlei Höcker vertritt einen Mandanten, der gegen die Kölner Ausgangssperre geklagt hat.

Deutschland Dr. Carsten Brennecke
Anwalt Carsten Brennecke plant für seinen Mandanten eine Klage vor dem BundesverfassungsgerichtBild: HÖCKER Rechtsanwälte PartGmbB

"Keiner von uns hat Zweifel daran, dass wir bei diesen Inzidenzen etwas machen müssen", hatte Brennecke der DW nachmittags am Telefon gesagt. Wie bei jedem Eingriff in die Grundrechte müsse man jedoch fragen: "Ist es erforderlich und angemessen? Hilft es also nennenswert zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens und hat die Stadt nicht vielleicht andere Maßnahmen, die als milderes Mittel gleicher Effektivität zur Verfügung stehen?"

Brennecke schwebt etwa eine Ausgangssperre nur für die Stadtteile vor, in denen es viele Infizierte gibt. "Die Frage ist, ob ein Mann wie mein Mandant in Köln-Weiden, wo die Inzidenz niedrig ist, am Einkaufen oder Spazierengehen gehindert werden muss. Da sind wir der Meinung: das ist nicht verhältnismäßig." Brenneckes Mandant wird nun wohl auch gegen die bundesweite Ausgangssperre Klage vor dem Bundesverfassungsgericht einreichen.

Ordnungsruf aus dem Auto

Weiter in Richtung Zülpicher Straße. In den Bars und Restaurants hier drängen sich normalerweise die Menschen. Jetzt muss man sie suchen. An einer Straßenecke sind Chris und Aaron gerade dabei, sich zu verabschieden. Ein aufwändigeres Ritual, das verschiedene Handgriffe erfordert. Die beiden Studenten haben noch einen Freund besucht, erzählen sie. Ausgangssperre hin oder her. "Das ist halt eine sehr belastende Situation, gerade für junge Menschen", sagt Chris. "Es geht ja jetzt auch schon seit anderthalb Jahren mit der Pandemie. Es gibt Länder, die haben es im Griff, und Deutschland…"

Deutschland Coronavirus l Ausgangsperre in Köln - Demonstration
Am frühen Abend demonstrieren etwa 300 Gegner der Ausgangssperre auch am Neumarkt in KölnBild: Peter Hille/DW

Weiter kommt er nicht. Ein Wagen des Ordnungsamtes ist rechts rangefahren, hat die Scheiben runtergelassen. "Sie müssen nach Hause gehen, Ausgangssperre", ruft es aus dem Auto heraus. Den Männern vom Ordnungsamt scheint das etwas zu langsam zu gehen. "Auflösen jetzt!"

Licht an auf der Intensivstation

Wie viele Menschen mussten sie heute Nacht schon nach Hause schicken, wie oft ein Bußgeld verhängen? "Keine Zeit, wir müssen weiter", sagt der Beifahrer. "Wenden Sie sich an die Pressestelle." Die teilt der DW am nächsten Tag mit, "dass sich die Kölner Bürger*innen größtenteils vorbildlich an die geltenden Ausgangsbeschränkungen halten". Der Ordnungsdienst habe bislang nur 43 Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkungen festgestellt und entsprechende Ordnungswidrigkeitenverfahren einleiten müssen.

Deutschland Coronavirus l Ausgangsperre in Köln - Panorama
Licht aus: während der Ausgangssperre liegt der normalerweise beleuchtete Kölner Dom im DunkelnBild: Peter Hille/DW

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker sei überzeugt, "dass durch die Ausgangsbeschränkung und der damit einhergehenden Reduzierung der Kontakte, die Infektionszahlen gesenkt und die Krankenhäuser und Intensivstationen effektiv entlastet werden."

Tausende COVID-19-Patienten werden auf deutschen Intensivstationen betreut. So auch im Bettenhaus, einem Betonklotz der Uniklinik aus den 1970er Jahren im Stadtteil Lindenthal. In einigen der 18 Etagen brennt auch um kurz vor Mitternacht noch Licht. 127 Covid-Patienten liegen derzeit auf Kölner Intensivstationen, 81 davon werden invasiv beatmet. 25 Betten sind noch frei. Müde Gestalten kommen von der Spätschicht oder sind auf dem Weg zur Nachtschicht. Schon fast anderthalb Jahre Pandemie - das gilt auch für Pfleger und Ärztinnen.

Intensivstationen schlagen Alarm

Alles nervt

Zurück in Richtung Innenstadt, vorbei am Hauptgebäude der Universität. Der Treppenaufgang zur Mensa liegt etwas zurückgesetzt, verborgen von Büschen und Bäumen. Musik ist von dort zu hören, Hiphop, der aus der Bluetooth-Box von den Betonwänden hallt. Ein Skateboard liegt auf dem Boden, Getränke in Dosen, Jugendkultur wie aus dem Bilderbuch.

Vier junge Männer feiern eine Miniatur-Party. Einer kommt die Treppe runter, blaue Weste, Skateboard in einer Hand. Er ist vielleicht 17 Jahre alt. Wie er das findet, mit der Ausgangssperre? Dass sie jetzt eigentlich gar nicht hier sein dürften? Er zieht die Maske über die Nase, will nicht reden, seine Kumpels auch nicht.

Dann zumindest Zeichensprache. Ein Daumen hoch, dazu ein Blick, der sagt: alles nervt, und Du nervst ganz besonders. Er lässt sein Skateboard auf die Straße fallen, springt auf das rollende Brett, holt zwei, drei Mal Schwung mit dem Fuß und fährt auf der menschenleeren Straße davon in die Nacht.