Aus für EU-Mercosur-Abkommen?
5. Dezember 2023Offiziell gilt das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den vier Mercosur-Ländern Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay noch nicht als gescheitert. Doch beim Mercosur-Gipfel, der noch bis Donnerstag in Rio de Janeiro stattfindet, wird bereits an einer Erklärung zur Verschiebung des größten globalen Handelsabkommens gearbeitet.
Nach einem Bericht der brasilianischen Tageszeitung Folha de S. Paulo soll klargestellt werden, dass die "Verhandlungen für das Abkommen nicht gescheitert sind, sondern die Verhandlungen trotz der Kontroversen der vergangenen Tage weiter fortgeführt werden".
Dies solle unmittelbar nach dem Amtsantritt des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei am 10. Dezember geschehen. Der Rechtspopulist war am 19. November in einer Stichwahl als Sieger hervorgegangen.
Lula: "Ich gebe niemals auf"
Für Brasiliens Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva ist das ein herber außenpolitischer Rückschlag. Sein Ziel war es, während der Mercosur-Präsidentschaft Brasiliens, die am 6. Dezember ausläuft, das Handelsabkommen abzuschließen. "Ich habe gespürt, dass Lula am liebsten heute statt morgen unterschreiben würde", berichtet der Abgeordnete Knut Gerschau, Obmann im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Deutschen Bundestag, im DW-Interview.
Die Gespräche fanden im Rahmen der deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen statt. Lula gab sich trotz allem weiter kämpferisch. Es sei irrational, den Vertrag nach mehr als 20 Jahren Verhandlungen nicht zu unterzeichnen. "Ich bin Brasilianer und gebe niemals auf", sagte er in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz. "Solange ich nicht mit jedem einzelnen Präsidenten gesprochen habe, werde ich nicht aufgeben."
Verhandlungsmarathon ohne Ende?
Über das Handelsabkommen zwischen beiden Blöcken wird seit dem Jahr 2000 verhandelt. Der jüngste Rückschlag geht auf die Präsidentschaftswahlen in Argentinien vom 22. Oktober zurück. Die argentinische Regierung informierte die Mercosur-Mitglieder am 30. November darüber, vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Javier Milei keine Entscheidung mehr zum Freihandelsabkommen treffen zu wollen. Diese Information führte nach Medienberichten dazu, dass EU-Handelskommissar Valdis Dombrovkis seine Reise zum EU-Mercosur-Gipfel nach Rio de Janeiro kurzfristig absagte.
Wenige Tage später erklärte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach einem Treffen mit Präsident Lula da Silva am Rande der Weltklimakonferenz COP28 in Dubai, der Vertrag sei "veraltet" und "inkohärent" und "für niemanden gut".
Brasiliens Außenminister Mauro Vieira will die Hoffnung dennoch nicht aufgeben. "Mal sehen, ob es möglich ist, die letzten verbleibenden Punkte zu überwinden", erklärt er im DW-Interview. "Ich denke, es ist ein interessantes Abkommen, das nicht nur für den Mercosur, sondern auch für die EU von strategischer Bedeutung sein wird."
"Mercosur-Staaten sind Wertepartner"
Mit dem Abkommen würde eine Freihandelszone mit über 743 Millionen Einwohnern (EU 448 Millionen / MERCOSUR 295 Millionen) geschaffen, die größte weltweit. Die Handelsbeziehungen zwischen beiden Staatengemeinschaften sind bereits eng. So stiegen nach EU-Angaben die EU-Investitionen in Mercosur-Staaten von 130 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf insgesamt 330 Milliarden Euro im Jahr 2020.
Doch bei dem Abkommen geht es um mehr als den Abbau von Handelsbarrieren. "Als Demokratien sind die Mercosur-Staaten wichtige Wertepartner", heißt es in einer Analyse der Außenhandelsexpertin Samina Sultan vom deutschen Institut für Wirtschaft (IW). Die EU könne es sich nicht leisten, ihre Bemühungen um die Region zu verringern. Denn im Gegensatz zur EU hat China seine Rolle in den Mercosur-Staaten in den vergangenen Jahren kontinuierlich ausgebaut.
Nach Angaben der UN-Handelsplattform UN Comtrade sind die Exporte der Region nach China zwischen 2012 und 2022 um 112 Prozent von 47 Milliarden US-Dollar auf 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr gestiegen. Die Einfuhren aus China in Mercosur-Mitgliedsländer stiegen im gleichen Zeitraum um 80 Prozent von 51 Milliarden US-Dollar auf 92 Milliarden US-Dollar. Der Handel mit der EU hingegen stagnierte. Sowohl Importe als auch Exporte zwischen beiden Gemeinschaften verharrten zwischen 2012 und 2022 auf einem Niveau von rund 60 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
"Verlust von Souveränität"
Pararguays Präsident Santiago Peña, der am 6. Dezember turnusmäßig die Mercosur-Präsidentschaft übernimmt, sieht die Schuld für ein mögliches Scheitern der Verhandlungen bei der EU. Gegenüber dem paraguayischen TV-Sender Gen erklärte er, die EU habe kein Interesse an einem Abkommen und stelle deshalb unerfüllbare Bedingungen, insbesondere im Umweltbereich.
"Dies geht soweit, dass sie die Kontrollen unserer Behörden in Frage stellen und ihre eigenen Bewertungen vornehmen wollen", zitiert ihn die argentinische Wirtschaftszeitung Ambito Financiero. "Das bedeutet für mich einen Verlust der Souveränität, und das ist praktisch nicht akzeptabel."
Bereits im September diesen Jahres hatte Peña auf einer Pressekonferenz in der paraguayischen Präsidentenresidenz in Asunción in einem Interview erklärt: "Ich habe Lula gesagt, dass er die Verhandlungen abschließen soll, denn wenn er sie nicht abschließt, werde ich in den nächsten sechs Monaten nicht weitermachen." Peña kündigte an, sich nach anderen Handelspartnern umzusehen, darunter Saudi-Arabien, Singapur und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Marina Silva: "Wir werden behandelt wie Bolsonaro"
Brasiliens Umweltministerin Marina schließt sich der Kritik an. In einem DW-Interview im September beklagte sie, dass "die EU die Regierung von Präsident Lula immer noch so behandelt, als handele es sich um die Regierung von Ex-Präsident Bolsonaro". Sie fügte hinzu: "Während sich die Regierung von Ex-Präsident Bolsonaro nicht um das Klimaschutzabkommen von Paris, Umweltschutz und Indigenenrechte geschert hat, haben wir die Entwaldung im Amazonas in den ersten sieben Monaten des Jahres um 48 Prozent reduziert.
Im Gegensatz zu Politikern und Wirtschaftsverbänden zeigten sich viele Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen erleichtert über die Verschiebung des Abkommens. Sie fordern gemeinsam mit dem Netzwerk Gerechter Welthandel eine Neuverhandlung des EU-Mercosur-Abkommens. Armin Paasch, Handelsexperte des katholischen Hilfswerks Misereor, erklärt: "Für Klima und Menschenrechte ist es eine gute Nachricht, dass die Verabschiedung im Hauruckverfahren vorerst gescheitert ist."