Tatort Klassenzimmer
17. September 2010Sie rotzen, kraulen sich die Eier, sie labern, mosern und quasseln in ihre Handys. Sie schubsen sich hin und um, blasen sich auf und reden sich nieder. Nur der Lehrerin hört niemand zu. Klein und zart tigert sie im hübschen Kostüm zwischen den Jugendlichen hin und her und spricht dabei von Freiheit und von Vernunft.
Von Molière zu Schiller
Nurkan Erpulat wurde 1974 in Ankara geboren. Er studierte Schauspiel in Izmir und Schauspielregie in Berlin und hat dort nun im Ballhaus Naunynstraße, dem ersten postmigrantischen Theater Deutschlands, "Verrücktes Blut" inszeniert. Entwickelt hat er dieses Stück zusammen mit dem Dramaturgen Jens Hilje – und zwar ziemlich frei nach dem Film "La Journée de la Jupe" von Jean-Paul Lilienfeld. Dieser Film erzählt von einer überforderten Lehrerin, die mit ihren Pariser Unterschichtsschülern mit Migrationshintergrund Moliére lesen möchte, damit wieder einmal scheitert und schließlich durchdreht. Zum Scheitern verurteilt ist die junge Lehrerin auf dem Bühnengeviert im Ballhaus Naunystraße auch. Denn was da in den Reclamheften steht, die sie zum heutigen 'Projekttag Schiller‘ angeschleppt hat, interessiert die lärmenden Kids im Klassenzimmer herzlich wenig.
Der Film, sagt Nurklan Erpulat, erzählt die Geschichte der Lehrerin, die aus den Schülern mit Migrationshintergund bessere Menschen machen will. Aber eigentlich interessiere sie sich gar nicht für die Jugendlichen. Das habe ihm nicht gefallen. "Denn wenn wir über die Schüler mit Migrationshintergrund sprechen, haben wir ganz andere Probleme. Probleme in dem Sinne, dass sie überhaupt keine Perspektive haben oder nur sehr wenig Perspektive haben." Es gebe, sagt Nurkan Erpukat, Studien, die belegen, dass bei gleicher schulischer Leistung 60 Prozent der Deutschen einen Ausbildungsplatz erhalten, aber nur 12 Prozent der Türken. 88 Prozent von ihnen blieben also außen vor. Deshalb dürfe sich niemand über Kriminalität wundern.
Mit Gewalt gegen Gewalt
In der Kreuzberger Theaterklasse ist mindestens einer einigermaßen kriminell. Jedenfalls hat er eine Pistole in der Tasche, die bei einem Handgemenge heraus und der Lehrerin in die Hände fällt. Worauf die erstmal zittert, dann durchlädt und die Schüler mit der Pistole in der Hand zwingt, Schiller zu lesen, ach was, zu spielen, mit sauberer richtiger Aussprache und mit Inbrunst und Leidenschaft. Und dabei erkennen sie dann irgendwann, dass es in den 'Räubern‘ um die Wut der Ausgegrenzten geht und in 'Kabale und Liebe‘ um der Ehre willen gemordet wird. Mit Gewalt im Wortsinn klärt die Lehrerin also auf und missbraucht die Pistole in der Hand dabei für immer neue Ausfälle gegen die vermeintlich so blöden und faulen Migrantenkinder und Kopftuchmädchen.
Mehr als vierzig Jahre, sagt Nurkan Erpulat, seien die Migranten in Deutschland mehr oder weniger ignoriert worden. "Auf der einen Seite haben wir gesagt, die sollen machen, was sie wollen. Das ist eine ganz andere Kultur. Auf der anderen Seite wurden sie total scharf kritisiert. Aber es gab keine Normalität".
Voneinander lernen
'Verrücktes Blut‘ ist natürlich kein Lehrstück für die Praxis. Auch wenn hier zu guter Letzt tatsächlich so etwas wie Normalität um sich greift. Eine versöhnliche Normalität, in der die geläuterten Schüler, die ihre Verletzungen preisgegeben haben, für Gewaltlosigkeit und Verständnis plädieren und die Lehrerin sich ebenfalls als beschädigte Persönlichkeit, nämlich als überassimilierte Türkin ,outet und erstmal erschöpft nach Hause will. Aber 'Verrücktes Blut‘ ist ja auch ein Theaterstück. Und das darf zuspitzen. Wobei es mit einem beträchtlichen Sinn für derbe Situationskomik mit den Klischees vom Opfer Migrantenkind spielt und der deutschen Mehrheitsgesellschaft ihre ignorante Besserwisserei unter die Nase reibt.
Autorin: Silke Bartlick
Redaktion: Günther Birkenstock