Aufbauschen und zuspitzen - die Vogelgrippe in den Medien
23. Februar 2006Wer am Mittwoch (22.2.2005) an einem Zeitungsstand vorbeikam, sah sich einem Schreckenszenario gegenüber: "Vogelgrippe - Fällt WM aus?", warnte unübersehbar eine Schlagzeile der "Bild"-Zeitung. Deren Leser brauchten schon während der vergangenen Wochen gute Nerven. "Die Angst wächst!", "Werden bald auch Haustiere getötet?", "Virus-Alarm!", "Medikamente nur für jeden 7. Deutschen" "Kein Grippe-Impfstoff mehr da!", "...und jetzt auch noch Millionen Tote durch die Vogelgrippe?" - so lauteten die Überschriften zum Thema.
Schlagzeile vor der Recherche
"Die Medien sind derzeit vom Vogelgrippevirus befallen - sie sind kränker als die Vögel", sagt Willi Streitz von der Katastrophenforschungsstelle der Universität Kiel. "Man hat oft den Eindruck, dass sich die Journalisten Schlagzeilen aus den Fingern saugen und sich dann einen Experten suchen, der ihre Meinung stützt." In der Berichterstattung geht häufig unter, wie verschwindend gering die Wahrscheinlichkeit ist, sich zu infizieren. Weltweit gibt es erst rund 170 bekannte Fälle; 91 der Erkrankten sind gestorben. Was Experten Sorge bereitet, ist die Möglichkeit, dass das Virus irgendwann mutiert und sich auch von Mensch zu Mensch überträgt. In diesem Fall könnte eine weltweite Grippe-Epidemie ausbrechen. Dass die Fußballweltmeisterschaft nur bei einer solchen Pandemie infrage stehen könnte, erfuhren die "Bild"-Leser freilich erst auf Seite 8.
"In der Berichterstattung wurde häufig nicht zwischen der potenziellen Pandemiegefahr und dem Vordringen des Virus unterschieden", erklärt Winfried Göpfert, Experte für Wissenschaftsjournalismus an der Freien Universität Berlin. Dies sei keineswegs nur in Boulevardzeitungen zu beobachten gewesen - Schlagzeilen wie "Vogelgrippe in Deutschland" hätten in vielen Blättern den Eindruck erweckt, es bestehe eine Gefahr für den Menschen.
Angst und Schrecken
"Auch die seriösen Medien sind unter dem sehr starken Einfluss der Boulevard-Medien gezwungen, Dinge aufzuplustern, welche die Leute in Angst und Schrecken versetzen, obwohl dazu überhaupt kein Anlass besteht", sagt Stephan Russ-Mohl, Direktor des Europäischen Journalismus-Observatoriums (EJO) in Lugano. Unabhängig von der Qualität sei es Teil des Problems, wenn etwa die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" der Vogelgrippe mehrere Seiten widme: "Durch die schiere Quantität gewinnt das Thema in der Wahrnehmung des Publikums an Bedeutung." Die Bildsprache lege dabei oft das Gegenteil von dem nahe, was in den Artikeln steht, sagt der Journalistik-Professor. "Es wurden millionenfach Bilder von Menschen in Schutzanzügen gedruckt - und damit suggeriert, dass eine große Ansteckungsgefahr besteht."
Hinzu komme ein strukturelles Problem: An nachrichtenarmen Tagen richteten die Redaktionen den Blick auch auf weniger bedeutsame Themen und stellten die Frage: Was kann man daraus machen? "Auch unter schwierigen redaktionellen Arbeitsbedingungen sollte man darüber nachdenken, ob man unnötig Angst erzeugt", sagt Russ-Mohl.
Verkaufsschlager Angsthemen
Ein Risiko habe - abhängig von der Eintrittswahrscheinlichkeit und der Größe des möglichen Schadens - grundsätzlich Nachrichtenwert, sagt Georg Ruhrmann, der an der Universität Jena zum Thema Risikokommunikation forscht. "Wenn Journalisten über Risiken berichten, setzen sie in der Regel noch einen drauf: Das Unsichere wird noch unsicherer, das Spektakuläre noch spektakulärer und der Schaden noch katastrophaler."
Ob Terrorismus, Lebensmittelskandale, Umweltkatastrophen oder Kriminalität - in den vergangenen zehn Jahren sei in den Medien, vor allem im privatkommerziellen Fernsehen, eine Zunahme von Angstthemen zu beobachten gewesen. "Die Bevölkerung wird mit Angstthemen infiziert, aber bevor diese wirklich bearbeitet werden, sind die Journalisten beim nächsten Thema", sagt Ruhrmann. "Dann habe ich vielleicht mehr Angst vor der Vogelgrippe als beim Überqueren der Straße, obwohl hier das Unfallrisiko größer ist."
Irrationale Reaktionen
In der Regel verschwinde ein Thema bereits nach wenigen Wochen - ohne nachhaltige Einstellungsänderungen erzeugt zu haben. Das Abflauen der Aids-Berichterstattung habe beispielsweise mit dazu geführt, dass ungeschützter Sex zunehme - obwohl das Infektionsrisiko bestehen bleibe. Warnung könne unter bestimmten Umständen in Hysterie und Aufklärung in Dummheit umkippen, sagt Ruhrmann. So zeuge der Rückgang bei den Geflügelverkäufen davon, dass die Berichte über Vogelgrippe völlig irrationale Reaktionen erzeugten.
Die Berichterstattung habe eine wichtige Funktion erfüllt, sagt Winfried Göpfert von der FU Berlin: Sie habe bei den Behörden einen Handlungsdruck erzeugt, sich sorgfältig auf die durchaus reale Möglichkeit einer Pandemie vorzubereiten.
Der Katastrophen-Soziologe Streitz glaubt, dass in den Medien langsam eine "Phase der Nachdenklichkeit" einsetze. "Anfangs stürzen sich alle auf so ein Thema - das entwickelt dann eine Eigendynamik." Als "Panikmache" will er dies aber nicht bezeichnen. "Die Menschen sind in aller Regel besonnen - man muss sich schon sehr anstrengen, um eine ordentliche Panik zu erzeugen."