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Auf der Suche nach der verlorenen Demokratie

Astrid Prange17. September 2013

Die Massenproteste in Kolumbien, Mexiko, Chile und Brasilien stellen die Demokratien in Lateinamerika auf eine Bewährungsprobe. Sie richten sich gegen das politische System, sind jeodch keineswegs antidemokratisch.

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Großdemonstration in Brasilien. (Foto: Vanderlei Almeida/AFP)
Bild: VANDERLEI ALMEIDA/AFP/Getty Images

Lateinamerika probt den Aufstand. In vielen Ländern des Subkontinents sind in den vergangenen Wochen Hunderttausende auf die Straßen gegangen, um gegen Korruption, politische Willkür und soziale Ausgrenzung zu protestieren.

Für Jorge Arias, den Direktor des Think Tank "Polilat" in Buenos Aires, sind die Massendemonstrationen kein Zufall. Er sieht darin eine zunehmende Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern. "Die Parteien, insbesondere in Lateinamerika, wollen nicht wahrhaben, dass der technische Fortschritt die Art der Kommunikation in einer Demokratie grundlegend verändert hat", erklärt Arias.

"Polilat" gibt jedes Jahr gemeinsam mit der Konrad-Adenauer Stiftung (KAS) den Demokratie-Index für Lateinamerika heraus. Der Index misst den Anstieg der erreichten politischen Rechte und Bürgerfreiheiten. "In diesem Jahr werden sich die Werte verschlechtern", kündigt Arias im Gespräch mit der DW an. "Es gab keine Fortschritte, im Gegenteil." Der Demokratieindex 2013 wird am 1. Oktober in Berlin vorgestellt.

Ein alter Mann protestistert gegen kolumbianische Regierung. (Foto: REUTERS/Jose Miguel Gomez)
Freihandel, nein danke! In Bogotá protestieren Landwirte gegen billige ArgrarimporteBild: Reuters

Arm, aber vernetzt

Die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung hat mittlerweile auch ländliche Regionen erreicht. "Die Zeiten, in denen ein quasi feudalistisches System über Jahrhunderte ohne Murren von der armen Landbevölkerung akzeptiert worden ist, gehen auch in Kolumbien zu Ende", schreibt Hubert Gehring, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bogotá, in seiner jüngsten Publikation über soziale Unruhen in dem südamerikanischen Land. Präsident Manuel Santos ist gefordert, seine Trutzburg Bogotá zu verlassen".

Die Landwirtschaft in Kolumbien, Brasilien und Mexiko ist traditionell durch eine extreme Konzentration von Grundbesitz und die wirtschaftliche Benachteiligung von Kleinproduzenten gekennzeichnet. Doch durch den Zugang zum Internet können mittlerweile auch Kleinbauern im Andenhochland die Kaffeepreise auf dem Weltmarkt abrufen und ihre Lage mit anderen Kaffeeproduzenten weltweit vergleichen.

"Bürgern stehen heute viele Informationskanäle zur Verfügung", sagt Jorge Arias. "Sie können sich ihr Wissen jenseits der traditionellen Medien und der offiziellen Verlautbarungen auch in sozialen Netzwerken beschaffen". Die politische Klasse habe es versäumt, sich auf diese Entwicklung einzustellen. Dies würden die massiven Proteste beweisen.

Masken von Anonymous. (Foto: Christophe Simon/AFP)
Brasilien: Auf der Facebook-Gruppe AnonymousBrasil wird zu Protesten aufgerufenBild: CHRISTOPHE SIMON/AFP/Getty Images

Zu den schwerwiegendsten politischen Problemen in Lateinamerika gehören nach Angaben von Arias Korruption, die Krise der Parteien, die Zersplitterung der Fraktionen in den Parlamenten sowie mangelnde Transparenz. Außerdem trage die angespannte wirtschaftliche Lage in der Region zur Verschlechterung des Index bei.

Die Kartoffel wird zum Politikum

Die Auslöser für die Massenproteste sind indes unterschiedlich. Während in Chile Schüler und Studenten gegen teure Schulen und Universitäten demonstrierten, trieb in Brasilien die Wut gegen teure WM-Stadien die Menschen auf die Straße. In Mexiko demonstrierten tausende von Lehrern gegen die geplanten Qualitätskontrollen im Unterricht und das Ende der Unkündbarkeit.

In Kolumbien lösten fallende Kartoffelpreise Aufruhr aus. Erst gingen nur die Kleinbauern in den ländlichen Provinzen auf die Straße. Doch nach und nach schlossen sich den wütenden Bauern weitere Berufsgruppen an, darunter Bergarbeiter, Lehrer und Busfahrer. Im August legte ein 11-tägiger Generalstreik die Hauptstadt Bogotá lahm.

Hubert Gehring macht für die Massenproteste in Kolumbien die Auswirkungen der jüngsten Freihandelsabkommen mitverantwortlich, die 2012 mit den USA und im August 2013 mit der EU in Kraft traten. Die Importe von subventionierten Agrarerzeugnissen bedrohten die einheimische Landwirtschaft. "Der Kleinbauer ist auf dem Weltmarkt noch nicht wettbewerbsfähig", erklärt Gehring. In den ländlichen Regionen komme von dem beeindruckenden kolumbianischen Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent kaum etwas an.

Protestierende halten eine Puppe in die Höhe. (Foto: Ivan Alvarado/Reuters)
Chile: Studenten und Schüler fordern Zugang zu kostenloser BildungBild: Reuters

Abschied von der traditionellen Politik

Es sind genau diese Ausgrenzungen, die die Menschen auf die Straßen treiben. Volksvertreter sind auf Demonstrationen weder in Kolumbien, noch in Brasilien, Chile oder Mexiko gerne gesehen. Die Bevölkerung, so scheint es, will Veränderungen nicht mit ihnen, sondern gegen sie durchsetzen. Für Ecuadors ehemaligen Energieminister Alberto Acosta ist dies jedoch kein Zeichen für Demokratieverdrossenheit, sondern im Gegenteil, ein Indiz für ein Verlangen nach mehr Demokratie.

"Die Leute demonstrieren nicht, weil sie keine Parteien wollen, sondern weil sie diese Parteien nicht wollen", stellt Acosta klar, der in den 70er Jahren Volkswirtschaft an der Universität Köln studierte. "Sie sind auch nicht gegen die Demokratie, sondern sie finden schlicht die jetzige, die repräsentative Demokratie unzureichend".