Urban Explorer in Berlin
9. August 2017"Erstaunlich, ich hab hier noch nie so viele Leute gesehen", sagt der Ire Ciaran Fahey während des Besuchs in einem verlassenen Kinderkrankenhaus im ehemals kommunistischen Osten Berlins. Die Wände sind mit Graffiti übersät.
Zwei Dutzend Besucher aus Deutschland, Russland, Lettland sind hier auf der Suche nach dem Nervenkitzel. Sie laufen vorsichtig über zerschlagenes Glas, Ziegelsteine und Haufen von Schutt in dem verfallenen, teils verbrannten und leicht unheimlichen Baukomplex. Sie alle sind "Urbexer" ("urban explorer"). Das heißt sie entdecken im Stadtraum verlassene Klinikbauten, leere Industriekomplexe und andere vergessene Orte, sogenannte "lost places".
So wie das Kinderkrankenhaus. Es wurde 1991 aufgegeben. Von den "Urbexern" bekam es bald den Spitznamen "Zombie Klinik" - nach einem Wandbild, das wie hunderte andere die Wände des Korridors bedeckt.
Die nasskalten früheren Krankenhauszimmer werden gelegentlich von Partyvolk benutzt - oder von Obdachlosen. Wie bei anderen "lost places" birgt ein Besuch Gefahren und ist offiziell grenzwertig. Denn Besucher betreten die Gebäude widerrechtlich, indem sie durch ein Loch im Zaun klettern, während sie nervös nach Aufsichtspersonal Ausschau halten.
Eva Henkel , eine Sprecherin des Berliner Senats, sagt, dass die Polizei nur einen beschränkten Blick auf solche urbanen Abenteuer wirft. Aber die Besucher betreten die Orte illegal und auf eigenes Risiko: "Wenn man sie noch alle beisammen hat, geht man da nicht rein."
Für Urbexer aber ist das Kinderkrankenhaus wie ein verlockendes Angebot im Reisekatalog, das sie fest in ihrem Berlinprogramm haben.
Spuren der Zeit
Fahey ist gebürtiger Ire, lebt aber schon lange in Berlin. Das "Urbex"-Urgestein kennt solche Orte besser als die meisten. Der passionierte Fotograf beschreibt die verlassenen Orte in seinem Blog und in seinem Fotoband "Verlassene Orte Berlin".
Der Trend begann, als sich nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 ein weites Hinterland öffnete, voll mit ehemaligen Nazi-Bunkern, Militärbaracken der Sowjetarmee, verschlossene Ziegelsteinfabriken und sogar ein ehemaliger Vergnügungspark mit Fahrgeschäften und Dinowelt. Nach dem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft waren die Orte dem Unbill von Wind und Wetter ausgesetzt.
Während des vergangenen Vierteljahrhunderts, in dem der Immobilienboom das Gesicht der Stadt veränderte, hat sich der Trend "Urbex" entzündet - mit immer mehr Entdeckern, die immer weniger verlassene Orte ausfindig machen.
Die "Urbex"-Bewegung ist global, mit Hotspots von Melbourne bis Detroit. Eine Google-Suchanfrage für "Urbex" bringt über sieben Millionen Treffer. "Das Interesse ist in den vergangenen Jahren explodiert, "Urbexen" wird immer beliebter", sagt Fahey. Der unausgesprochene gemeinsame Code der "Urbexer" ist: Nimm nichts mit ausser Fotos, hinterlasse nichts ausser deinen Fußspuren.
In der "Zombie Klinik" laufen Max und Mila, zwei junge lettische Besucher, unter einer teils eingestürzten Decke durch. Tote Lampen baumeln an Drahtseilen herunter, während sie die riesige "Urban Art"-Galerie bewundern.
Für viele hat der Nervenkitzel der Touren den Geschmack eines postapokalyptischen Tourismus. Max ist fasziniert, "wie die Natur das alles hier übernommen hat."
Legale und illegale Touren
Wo ein Trend ist, folgen wirtschaftliche Interessen meist schnell. So bieten mittlerweile verschiedene Berliner Unternehmen Touren für zahlende Gäste an. Manche nehmen die neugierigen Besucher auch auf einen bewaldeten Hügel im ehemaligen West-Berlin mit, wo eine Abhörstation des amerikanischen Auslandsgeheimdiensts NSA war. Kalter Krieg gepaart mit Graffiti überall.
Seit Jahren haben hier Raveparties stattgefunden unter den zersplitterten geodätischen Kuppeln, aufgetürmt wie gigantische Golfbälle oben auf dem Teufelsberg, ein Hügel aus Schutt des 2. Weltkriegs.
Diese Touren bieten "legal autorisierten und sicheren" Zugang. Jedem ist dabei erlaubt, "die Faszination dieser Orte zu spüren", so Andreas Boettger, Mitgründer des Tourenanbieters Go2know. Als frühe "Urbex"-Pioniere, sagt er, kann sein Unternehmen verstehen, dass Puristen solch kommerzielle Touren ablehnen. Aber letztere würden auch helfen, die Orte zu erhalten: "Und diese Idee teilen viele Hobbyfotografen, Geschichtsfans und andere interessierte Leute", sagt er.
Fahey mag die kommerziellen Touren nicht: "Leute bringen andere an Orte, die sie alleine kostenlos entdecken könnten. Aber wenn Leute dafür bezahlen wollen, ist das ihre Sache." Der "Urbex"-Veteran hat selber Ärger mit der Community bekommen: Er hat etwas getan, das einige für ein No-Go halten - er hat im Detail beschrieben, wie man zu den versteckten Schätzen kommt, die er entdeckt hat. "Ich habe die Adressen veröffentlicht, das ist kontrovers", gibt er zu. "Manche Leute wollen das Geheimnis hüten. Aber diese Orte haben sowieso nur eine kurze Lebenszeit. Ich finde, sie sollten jedem offen stehen."
fm / ks (AFP)