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"Atomkraft wird zu teuer"

Gero Rueter12. Juli 2013

Atomkraft verliert weltweit an Bedeutung und wird zunehmend unrentabel, sagt Atomexperte Mycle Schneider, Träger des alternativen Nobelpreises. Allerdings seien sich viele Politiker dessen noch nicht bewusst.

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Mycle Schneider Foto: CC-BY-SA Stephan Roehl / Heinrich-Böll-Stiftung
Mycle SchneiderBild: CC-BY-SA Stephan Roehl/Heinrich-Böll-Stiftung

Deutsche Welle: Herr Schneider, Sie geben jährlich den Weltstatusbericht der Atomindustrie heraus, gerade ist ihr Status Report 2013 erschienen. Was hat sich nach der Atomkatastrophe von Fukushima weltweit verändert?

Mycle Schneider: De facto verliert die Atomkraft schon seit vielen Jahren an Bedeutung. Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass die Tendenz des Abstiegs sich weltweit beschleunigt hat.

Inwiefern?

Die Anzahl der betriebenen Atomkraftwerke sinkt weltweit. Die meisten Reaktoren gab es 2002, also vor über zehn Jahren. Auch der Anteil der Atomkraft am weltweiten Strommix sinkt: Vor 20 Jahren, 1993, gab es den Höchststand mit 17 Prozent, bis 2012 ging er auf 10,4 Prozent zurück.

Und was ist Ihrer Ansicht nach der Grund für die absteigende Tendenz?

Die wesentlichen Gründe sind ein verändertes Meinungsbild und ökonomische Fakten. Atomkraft verteuerte sich zunehmend, und andere Quellen der Stromerzeugung sind immer konkurrenzfähiger geworden.

Der große deutsche Stromkonzern RWE ist aus Projekten für neue Atomkraftwerke ausgestiegen, zum Beispiel auch in Großbritannien. Als Grund sagte RWE, dass das Kostenrisiko zu hoch und Atomstrom zu teuer wäre. Sind solche Aussagen von Stromkonzernen die Ausnahme?

Nein, das spiegelt ganz genau die globale Entwicklung wider. Zwar gibt es nach wie vor Politiker, die sich positiv über Atomkraft äußern, zum Beispiel Politiker aus dem Vereinigten Königreich oder US-Präsident Obama - doch Präsidenten und Regierungen bestellen keine Atomkraftwerke. Das machen Energieunternehmen. Und die sind abgeschreckt von steigenden Investitionskosten, während man bei allen anderen Technologien stark sinkende Kosten zu verzeichnen hat.

Infografik Kosten für Strom aus neuen Kraftwerken rosskraftwerken.psd
Stromkonzerne wollen keine neuen Atomkraftwerke mehr in Europa bauen. Umweltfreundliche Technologien sind erheblich günstiger.

Warum ist denn die Atomkraft inzwischen so teuer?

Einerseits sind die Anlagen immer komplexer geworden, die Ansprüche für Sicherheit, Schutz vor Angriffen oder Unfällen werden immer höher. Das hängt natürlich mit der öffentlichen Meinung zusammen, die nicht überall gleich ist, die aber allgemein bewirkt, dass die Sicherheitsanforderungen verstärkt werden. In vielen Ländern wären Atomkraftwerke, wie sie heute betrieben werden, gar nicht mehr genehmigungsfähig.

Was kostet denn eine Kilowattstunde Atomstrom, wenn alle Kosten eingerechnet werden?

Das kann man gar nicht sagen, weil es keinen definierten Preis für die Endlagerung von hochradioaktiven Abfällen gibt. Es gibt ja weltweit kein einziges solches Endlager. Das heißt, wir kennen nach 50 Jahren Atomenergienutzung die Gesamtkosten überhaupt noch nicht.

Und dann ist ja die Frage, in welcher Höhe versichert man eine Anlage gegen einen Unfall. Die Kostenschätzungen für die Katastrophe von Fukushima liegen zwischen 130 und 650 Milliarden Dollar. Wenn man solche Summen versichern würde, dann würde die Kilowattstunde heute wahrscheinlich über einen Euro kosten.

In Ihrem Weltstatusreport zur Atomkraft steht, dass die Finanzmärkte Unternehmen abwerten, die auf Atomkraft setzen. Was sind die Gründe?

Die präzise Kostenabschätzung im Vorfeld ist die größte Schwierigkeit. Für einen Kredit über mehrere Milliarden Euro müssen sie aber präzise sagen, wie viel Kapital sie wann benötigen. Den Endpreis von neuen Atomkraftwerken kennt heute aber niemand. Und die Baukosten für die noch nicht fertig gestellten Atomanlagen in Finnland und Frankreich sind explodiert, mindestens viermal so hoch wie ursprünglich veranschlagt. Für Finanzinstitute ist das unerträglich, da sind die Risiken viel zu hoch.

Nuklearkraftwerk Flamanville Foto: REUTERS/Charles Platiau
Das französische Kernkraftwerk Flamanville sollte ein Vorzeigeprojekt werden. Doch die Kosten sind explodiert.Bild: Reuters

Heißt das, ohne politische Unterstützung und Abnahme von Risiken rentieren sich neue Atomkraftwerke heute nicht mehr?

Man kann heute kein neues Atomkraftwerk mehr bauen, das sich wirtschaftlich rechnet. In liberalisierten Märkten ist das nicht mehr denkbar. Heute ist das nur noch dort denkbar, wo nicht nur die politische Unterstützung da ist, sondern wo auch der Wille, Staatsgelder mitzuverwenden oder Garantien zu geben, wie das im Sonderfall China und begrenzt in Russland heute möglich ist.

Aber es gibt Regierungen, zum Beispiel die von Großbritannien, die noch neue Atomkraftwerke bauen wollen. Wenn es sich wirtschaftlich nicht mehr rechnet, warum halten die Regierungen dann daran fest?

Ich glaube, es hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen. Der eine Faktor ist, dass über Jahre einfach keine andere Politik konsequent verfolgt worden ist, man keine Alternativen entwickelt hat. Da hat heute Deutschland gegenüber Großbritannien wirklich einen großen Vorteil, weil dort die Energiewende praktisch schon vor zwei Jahrzehnten eingeläutet worden ist.

Und darüber hinaus herrscht in den politischen und wirtschaftlichen Kreisen ein großer Mangel an Information und Verständnis für energiepolitische Zusammenhänge.

Atomkraft wird zu teuer und Wind- und Sonnenstrom wird günstig. Gibt es da eine globale Verdrängung?

Vor ein paar Jahren sagte man noch einen Wettbewerb zwischen Kohle und Atom voraus, dann zwischen Gas und Atom. Und heute haben wir eine Situation, wo die Kleinen im Wettbewerb mit den Großen stehen, und das sind eben vor allen Dingen die Erneuerbaren.

Herr Schneider, blicken wir noch in einige Länder. Sie leben in Frankreich, dem Atomland Nummer eins in der EU. Ein Atomreaktor wird dort seit langem gebaut. Wird es noch weitere Neubauten geben?

Der Neubau in Flamanville ist eigentlich ein industriepolitisches Desaster. Die Kosten werden jetzt auf 8,5 Milliarden Euro geschätzt, viermal mehr als ursprünglich kalkuliert. Auf absehbare Zeit wird es keine Neubauten geben, im Gegenteil. Die Regierung von Präsident Hollande hat angekündigt, den Anteil des Atomstroms von etwa drei Viertel auf die Hälfte bis 2025 zu senken.

Die staatliche Energieagentur Ademe geht davon aus, dass bis 2030 dann die Hälfte der installierten Nuklearkapazität - das sind 34 der 58 Atomkraftwerke im Land - abgestellt werden können. Es gibt also auch in Frankreich keine Perspektive mehr für neue Atomkraftwerke.

China und Indien verfolgten in der Vergangenheit ambitionierte Ausbaupläne. Immer noch?

China ist das einzige Land, das wirklich massiv dazu baut, inzwischen sind 28 Reaktoren im Bau. Allerdings wird in China sehr viel mehr Geld in erneuerbare Energien gesteckt, schon vor Fukushima etwa fünfmal so viel wie in Atomkraft. Und 2012 hat die Windkraft allein bereits mehr Strom erzeugt als die Atomenergie. Also auch dort sehen wir einen Wettbewerb, der im Moment von den Erneuerbaren gewonnen wird.

Mycle Schneider mit Won-Soon, Bürgermeister von Seoul Foto: Yujin Lee
Mycle Schneider mit Park Won-Soon, Bürgermeister von Seoul. Seoul will durch Energieeinsparung und Ernuerbare Energien den Anteil von Atomstrom reduzieren.Bild: Yujin LEE

In Japan gab es einen unbegrenzten Glauben an die Atomkraft, dann den Unfall, jetzt eine kritische Bevölkerung und eine Pro-Atomkraft-Regierung. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?

In Japan haben wir eine fast vorrevolutionäre Situation. Von außen ist es sehr schwer nachvollziehbar, wie diese Bevölkerung wirklich unter Schock steht, traumatisiert worden ist. Fukushima ist nicht nur eine Umwelt- und Gesundheitskatastrophe. Dieser Vorgang hat praktisch das Glaubenssystem der Japaner in Frage gestellt oder gar zerstört. Also der Glaube an Technologie, an Autoritäten, an die Zentralregierung und an die Technokratie ist zerfallen.

Dies hat zur Spaltung der Gesellschaft geführt: Auf der einen Seite die Betreiber, die natürlich gerne wieder Reaktoren anfahren möchten, und die Banken, die Großanteilseigner der Stromunternehmen sind, gestützt von der Regierung. Auf der anderen Seite die Zivilbevölkerung, die auf keinen Fall das Wiederanfahren der Reaktoren möchte. Derzeit sind nur zwei Atomkraftwerke von 50 in Betrieb. Entwicklungen zeigen, dass die Perspektive für ein Wiederanfahren oder gar für Neubauten sehr, sehr mager aussieht.

Herr Schneider, Sie beobachten die Entwicklung der Atomkraft in der Welt seit drei Jahrzehnten, heute liegt der Anteil von Atomstrom am globalen Strommix bei zehn Prozent. Wie wird sich dieser Anteil global verändern?

Man kann davon ausgehen, dass der Anteil des Atomstroms am globalen Stromaufkommen weiter zurückgehen wird, und in den nächsten zwei Jahrzehnten also ein verschwindend geringer Anteil an Atomkraft am globalen Strom- und Energieaufkommen übrig bleiben wird.

Bedeutete "ein geringer Anteil" unter fünf Prozent der Stromerzeugung im Jahr 2030?

Ja genau, davon würde ich ausgehen.

Das Interview führte Gero Rueter.

Der Atomexperte Mycle Schneider wurde für seine Arbeit 1997 mit dem alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award) geehrt und lebt in Paris. Seit 30 Jahren beobachtet Schneider die Entwicklung der globalen Atomindustrie, gibt jährlich den Weltstatusbericht der Atomindustrie heraus, lehrt an zahlreichen Universitäten und arbeitet als unabhängiger Berater für Regierungen und internationale Organisationen auf der ganzen Welt.