Atomausstieg im Simulatorzentrum
18. Februar 2022Ende des Jahres stellen mit Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 auch die letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland den Betrieb ein. Nicht nur an den Standorten im Emsland, Niederbayern und Baden-Württemberg, sondern viele Kilometer weit entfernt wird dann auch in Nordrhein-Westfalen der Stecker gezogen. Und zwar in Essen im Simulatorzentrum, unter dessen Dach sich die Nachbauten der Leitwarten dieser Kernkraftwerke im Maßstab eins zu eins befinden.
Noch bis zum Jahresende trainieren hier die Mitarbeiter aus diesen drei Leitwarten in Schulungskursen, ihr Kernkraftwerkvor Ort unter allen denkbaren Bedingungen sicher zu steuern. Bis hin zur sogenannten RESA, der Reaktorschnellabschaltung. Vor Fukushima, sagt der langjährige Ausbilder und Ingenieur Dietmar Dusmann, "hatten wir 14 anlagenspezifische Simulatoren. Eins zu eins Kopien der realen Kernkraftwerke". Damit war das Simulatorzentrum in Essen lange Zeit die weltweit größte Einrichtung dieser Art, deren Kompetenz auch nach dem Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie im Ausland weiter gefragt bleibt.
Starthilfe für finnisches Kernkraftwerk
So finden in einem Simulator auch in den kommenden Jahren noch Schulungen für die Mannschaften aus dem niederländischen Kernkraftwerk Borssele statt, das bis Mitte des nächsten Jahrzehnts Strom liefern soll. "Neben diesem Kernkraftwerk", erläutert Geschäftsführer Olaf Coordes, "begleiten wir noch die beiden Anlagen in Gösken und Leibstadt in der Schweiz". Außerdem sind die Essener Experten auch in Finnland im Einsatz. "Wir qualifizieren die Erstmannschaft am Standort Olkiluoto," ergänzt Olaf Coordes. Ein neugebautes Kernkraftwerk, das zum Jahreswechsel den Betrieb aufnahm.
In dem sechsgeschossigen Gebäude in Essen kann man weiterhin quer durch Deutschland laufen. Von Landshut bis nach Brokdorf. Also zu den maßstabsgetreuen Kopien der Leitwarten der jeweiligen Kernkraftwerke. "Jeder Simulator, also eine Warte, die eins zu eins nachgebaut ist, kostet heute, wenn man ihn so kauft, zwischen 15 und 20 Millionen Euro", konstatiert Dietmar Dusmann. Im Simulatorzentrum der Kraftwerks-Simulatoren-Gesellschaft (KSG) und der Gesellschaft für Simulatorforschung (GfS) fanden in Spitzenzeiten rund 600 Kurse im Jahr mit bis zu 2000 Teilnehmern statt. Hinter der KSG und GfS stehen die Strom aus Kernenergie erzeugenden Unternehmen Preussen Elektra, RWE, Vattenfall, EnBW und der niederländische Partner EPZ.
Auch im Simulator Brokdorf lief bis Ende des vergangenen Jahres der Schulungsbetrieb. Inzwischen, so Dietmar Dusmann, ist der Simulator zum Teil schon "ausgeschlachtet. Viele der Ersatzteile, die wir hier haben, sind heute auf dem Weg ins Kraftwerk und können dort gut gebraucht werden." Schließlich wird nach den Worten des langjährigen Ausbilders Bert Poeten bei einem abgeschalteten Kernkraftwerk nicht einfach der Schlüssel umgedreht und das Licht ausgemacht. "Das heißt über viele Jahre werden die Betriebsmannschaften noch vor Ort gebraucht, um das Kraftwerk zurückzubauen, bis es dann wieder zur grünen Wiese geworden ist."
Kompetenz für neue Geschäftsfelder
Noch funktionstüchtig ist die Simulatorwarte des Kernkraftwerks Grohnde. An meterlangen Schalttafeln an der Wand zeigen blinkende Lämpchen den per Rechner aufgespielten Status des Reaktors. Von der Deckenbeleuchtung bis zu den Bedienbausteinen gleicht der Simulator in Ausmaßen und Einrichtung dem Original vor Ort wie ein Ei dem anderen.
Nachdem im Laufe der Jahre Kernkraftwerke Zug um Zug stillgelegt wurden, habe man schnell gemerkt, "man braucht auch den Simulator dazu nicht. Der ist teuer im Unterhalt," beschreibt Dietmar Dusmann die Entwicklung. Mit derzeit rund 80 Mitarbeitern beträgt der Jahresumsatz des Simulatorzentrums nach den Worten von Geschäftsführer Coordes rund 20 Millionen Euro. In gefragteren Zeiten erzielte man mit 180 Mitarbeitern das Doppelte.
Angesichts der absehbaren Entwicklungen haben die Verantwortlichen darum früh Perspektiven rund um die Kernkompetenz Kernenergie, aber auch darüber hinaus entwickelt. Mit vier eigenständigen Marken unter dem Kürzel EKu hat man neue Geschäftsfelder erschlossen. EKu steht dabei für Essen Kupferdreh, also den Stadtteil am angestammten Unternehmenssitz. Mit der Marke EKu.SAFE, erläutert Marketingreferentin Claudia Strüber, bediene man den Sektor Human Factors. "Also die Verhaltensstandards, die wir aus der Kernenergie übernommen haben und weiterentwickeln für neue Geschäftsbereiche." Dabei geht es um Verhaltens-Schulung von Personal in verantwortungsvollen Bereichen in kritischen Situationen. Etwa auch für Operationsteams in Kliniken. Ein Programm, das auf erprobten Erfahrungen in Kernkraftleitwarten aufbaut.
Dazu kommen drei weitere Geschäftsbereiche. EKu.LOC beispielsweise bietet zusammen mit einem weiteren Standort in München für Kunden die Möglichkeiten eines geo-redundanten Betriebs von IT-Infrastrukturen, um die Verfügbarkeit von unternehmenskritischen Daten und Anwendungen jederzeit zu garantieren. EKu.SEC bietet angesichts zunehmender Cyber-Angriffe Schulungen für Unternehmen, um die Informationssicherheit zu optimieren und Versorgungsstrukturen zu sichern. Auch das ein Terrain, auf dem sich die Experten des Simulatorzentrums auskennen.
Gleiches gilt den Bau von Simulatoren durch EKu.SIM. Und zwar nicht nur für die nukleare Welt, sondern auch für viele andere Branchen, ergänzt Dietmar Dusmann und nennt ein Beispiel. "Ein schönes Geschäft, das wir hatten, war der Bau eines Simulators für ein Stahlwerk. Ein Standort in Österreich, in Linz. Das haben wir erfolgreich durchgezogen." Mit Blick nach vorn heißt die Devise demnach: "Wir trauen uns Simulation in allen Branchen." Nach dem Ausstieg aus der Kernenergie hat das Simulatorzentrum Essen mit der vorhandenen sicherheitssensiblen Kompetenz neue markttaugliche Marken an den Start gebracht.