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Politik

Geschichte eines hart umkämpften Grundrechts

22. November 2018

"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". So steht es im deutschen Grundgesetz. Ein Recht, das momentan in Frage gestellt wird - und um das in der Geschichte der Bundesrepublik hart gerungen wurde.

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Deutschland 1993 | Protest gegen Änderung des Grundgesetzes in Bonn
Kein Durchkommen: Demonstranten belagern 1993 den BundestagBild: Imago/S. Spiegl

Bonn, 26. Mai 1993. Zehntausende Demonstranten haben sich im Regierungsviertel untergehakt und Menschenketten gebildet. Sie blockieren den Zugang zum Bundestag. Flaschen, Steine und Feuerwerkskörper fliegen durch die Luft, die Polizei geht mit Knüppeln in die Menge.

Hunderte Abgeordnete müssen die Blockade per Hubschrauber überwinden oder gelangen auf Rhein-Schiffen zum Parlament. Nach fast 13 Stunden Debatte entscheiden sie am Abend eines turbulenten Tages: Das Asylrecht in Deutschland wird stark eingeschränkt. Wer nicht direkt nach Deutschland kommt, sondern über einen so genannten "sicheren Drittstaat", darunter von Anfang an alle deutschen Nachbarländer, erhält kein Asyl mehr.

Deutschland Bundestag 1993 | Änderung Grundgesetz - Einschränkung Asylrecht
Mit Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP änderte der Bundestag 1993 das Grundgesetz - in der Bildmitte der damalige Bundeskanzler Helmut KohlBild: picture-alliance/dpa/M. Gerten

"Das war eine ziemlich aufgeheizte, sehr emotionale Debatte damals", erinnert sich Dieter Wiefelspütz im Gespräch mit der DW. Vieles erinnere an die Debatte heute.  Der damalige SPD-Abgeordnete stimmte am Ende für die Einschränkung des Asylrechts. "Ich war einer derjenigen, der den damaligen Zustand für völlig unbefriedigend gehalten hat. Ich komme an die Grenze und sage "Asyl", und schon bin ich in Deutschland, so war das. Und es gab steigende Zahlen von Asylsuchenden, 100.000 Asylanträge jährlich galt damals als viel. Diese Grundgesetzänderung hat das Asylrecht auf völlig neue Füße gestellt."

Von der Stunde Null zum Artikel 16

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik änderte damit das Parlament ein Grundrecht. 1949 hatte der Parlamentarische Rat dem neuen deutschen Staat eine Verfassung gegeben. Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft stellte er dabei die Grundrechte jedes Einzelnen in den Vordergrund. In den 19 ersten Artikeln des Grundgesetzes sind sie festgelegt: darunter die Freiheit der Person, die Gleichberechtigung, Glaubensfreiheit und eben auch das Recht auf Asyl in Artikel 16.

"Mehrere Mitglieder des Parlamentarischen Rates sind selbst im Exil gewesen vor 1945", sagt Jochen Oltmer, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück. "Sie sind von den Nationalsozialisten vertrieben worden und haben in anderen Ländern Aufnahme gefunden. Und das spielte natürlich auch eine Rolle."

Professor Jochen Oltmer  lehrt an der Universität Osnabrück
Der Migrationsforscher Jochen Oltmer ist Professor an der Universität OsnabrückBild: Michael Gründel

Zudem habe die junge Bundesrepublik nach dem Neuanfang, der so genannten Stunde Null, wieder internationale Anerkennung für Deutschland gewinnen wollen, so Oltmer im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Da hat sich der Parlamentarische Rat mit der Formulierung in Artikel 16 ganz explizit an der UN-Menschenrechtserklärung orientiert. Man wollte deutlich machen, dass man sich nach dem Zweiten Weltkrieg international einfügen will, dem Westen zugehörig ist."

Das Jahrhundert der Flüchtlinge

Nach der Katastrophe zweier Weltkriege mit Millionen von Flüchtlingen hatten die Unterzeichner der UN-Menschenrechtscharta 1948 das Asylrecht festgeschrieben: "Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen" heißt es in Artikel 14. Daraus folgt jedoch keine Verpflichtung eines Staates, Asyl zu gewähren.

Mit einem individuellen, einklagbaren Recht auf Asyl steht Deutschland dennoch nicht alleine da. Das hatte der Kandidat für den CDU-Vorsitz, Friedrich Merz, behauptet, der die Debatte um eine Abschaffung des Grundrechts auf Asyl angestoßen hat. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk sehen die Verfassungen von 14 Ländern ähnliches vor - von Angola über Portugal bis Venezuela. Auch Italien, Spanien oder Slowenien haben demnach das Recht auf Asyl in ihrer Verfassung festgeschrieben - allerdings mit Hinweis auf detailliertere gesetzliche Regelungen.

Schnee von gestern

Dieter Wiefelspütz
Dieter Wiefelspütz war von 1987 bis 2013 Abgeordneter der SPD im BundestagBild: picture-alliance/ZB

Durch die Entscheidung von 1993 allerdings sei das Grundrecht auf Asyl in Deutschland sowieso "Schnee von gestern", sagt der SPD-Mann Dieter Wiefelspütz. "Der Grundrechtschutz Asyl geht heute quasi gegen Null, das gibt es praktisch nicht mehr. Wir haben heute das europäische Asylrecht mit all seinen komplexen Problemen und das Grundgesetz spielt im Grunde überhaupt keine Rolle mehr."

Nur etwa zwei Prozent derer, die in Deutschland Schutz genießen, würden diesen auf Grundlage von Artikel 16 des Grundgesetzes erhalten, bestätigt Migrationsforscher Oltmer. "Das heißt, 98 Prozent erhalten auf anderen Wegen Schutz, insbesondere durch die Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention."

Scheindebatte aus Karrieregründen?

Die aktuelle Diskussion rund um eine Streichung des Asylrechts aus der Verfassung nennen sowohl Oltmer als auch Wiefelspütz deshalb eine "Scheindebatte". Friedrich Merz versuche, mit einem vermeintlichen Patentrezept die Leute einzufangen, sagt Wiefelspütz. Das sei ein geschickter Schachzug, da das Thema Asyl die Deutschen heute noch stärker bewege als Anfang der 1990er Jahre. Allerdings: "Das ist eine Mogelpackung, das ist ein Veraschen des Volkes, der eigenen Karriere zu Liebe", so Wiefelspütz. Wichtiger sei es, auf internationaler Ebene gemeinsame Asyl-Regelungen zu finden. Insbesondere die Europäische Union müsse sich endlich auf eine gerechte Lastenverteilung einigen.

Ein Blick in das Protokoll der historischen Bundestagssitzung vom 26. Mai 1993 zeigt: Auch diese Forderung ist nicht neu. Schon damals forderten Dieter Wiefelspütz und andere Abgeordnete Zuwanderungsquoten in der EU. Doch ein echter europäischer Asylkompromiss lässt weiter auf sich warten.