"Wir sind den Mächtigen ausgeliefert"
22. Februar 2020Seit 28 Jahren lebt José Carlos Almeida in einem Viertel am Stadtrand von Aracaju, im Nordosten Brasiliens. Er habe den Ort praktisch gegründet, sagt er. Japãozinho nennen es manche, andere Ponta da Asa oder auch Bairro Santo Antonio. Etwa 1.100 Menschen leben dort, arme Familien, die vom Fischen leben oder als Lastenträger arbeiten. Und viele leben von "Bolsa Família", also dem "Familienstipendium", dem wichtigsten Sozialprogramm Brasiliens. Durch dieses Geld komme der Handel im Viertel in Schwung, sagt Almeida.
Doch zuletzt wurden immer mehr Bewohner aus dem Programm gestrichen. "Viele Mütter haben die Kinder nicht mehr zur Schule gebracht, weil dort oft das Mittagessen ausfiel. Andere haben schlicht keine Schuhe, und barfuß geht man nicht zur Schule. Das hier ist nun einmal ein armes Viertel", sagt Almeida. Doch das Fehlen in der Schule, genau wie fehlende Impfungen, führen zu diesen Suspendierungen durch die Behörden. Sobald die Situation wieder normalisiert ist, müssten sie das Familienstipendium wieder erhalte. Eigentlich. Denn das passiert nicht immer.
28 Euro für Sohn und Mutter
Von außen gleicht das kleine Haus von Vera Lúcia und ihrem Mann Ivan da Silva, schräg gegenüber von Almeidas Haus, einer Baustelle. Früher bauten sie täglich an ihrem Haus, vor zehn Jahren, als Ivan noch eine geregelte Arbeit hatte und in die Sozialkassen einzahlte. Seit vier Jahren zahlt er nicht mehr ein, denn die Jobs seien immer weniger geworden, sagt er. Als er dann vor drei Monaten einen Bandscheibenvorfall hatte, gab es kein Krankengeld mehr. Jetzt verkaufe er ab und zu Snacks auf der Straße, sagt der 47-Jährige.
Früher, da bekam die Familie zudem für ihre vier Kinder Bolsa Família. Heute ist nur noch der jüngste bezugsberechtigt. Theoretisch. Denn seit einem Jahr geht Vera Lúcia jeden Monat zum Sozialamt. Umgerechnet 28 Euro stünden ihr und dem Sohn zusammen zu, sagt sie. Doch auf dem Amt sagte man ihr, dass sie kein Bolsa Família bekämen. Wieso, das weiß sie nicht. Man konnte es ihr auch nicht erklären. Vielleicht ändere sich ja demnächst was, sagt Ivan. Immerhin stünden ja Kommunalwahlen an. "Wir sind nun einmal den Mächtigen ausgeliefert, und damit es besser wird, müssen die was unternehmen."
Programm dient zum Wahlkampfzweck
"Das große Problem ist, dass Bolsa Família stets von allen Regierungen für Wahlkampfzwecke missbraucht wurde", sagt der Ökonom Marcelo Neri, der das Institut FGV Social in Rio de Janeiro leitet, im Gespräch mit der DW. Die FGV schätzt, dass 900.000 Personen den Zugang zu Bolsa Família in 2019 verloren haben, und dass es eine Warteliste mit 500.000 bis eine Million Personen gibt, die aufgenommen werden müssten.
Die meisten Fälle registriert der arme Nordosten, der daher dringend auf das Sozialprogramm angewiesen ist. So ist es auch die Region, wo Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der das weltweit als Mechanismus zur Armutsbekämpfung gelobte Programm 2004 startete, am beliebtesten ist - trotz eines halben Dutzend von Korruptionsprozessen, die gegen ihn laufen. In Ponta da Asa sagen alle: Lula war der beste Präsident überhaupt.
Der rechtspopulistische Präsident Jair Messias Bolsonaro hatte zwar gedroht, das Programm mit dem "Lula-Stempel" abzuschaffen. Aber seitdem er im Januar 2019 Präsident wurde, weiß er es offenbar zu schätzen. Praktisch jeder vierte Brasilianer erhält Bolsa Família, ist also auf das Wohlwollen der Regierung angewiesen.
So hat Bolsonaro gleich in 2019 ein 13. Monatsgehalt für die Bezieher eingeführt. Noch ist unklar, ob es auch in den nächsten Jahren gezahlt wird. In Brasilien heißt es, dass Bolsonaro damit Lulas Wähler gewinnen wolle. Die langen Wartelisten des Programms könnten andererseits ein Indiz dafür sein, dass Bolsonaro konzeptionelle Änderungen vornehmen will und dem Projekt seinen "Bolsonaro-Stempel" aufdrücken will. Vielleicht eine Namensänderung? Die Signale seien unklar, so Neri.
Betrugsfälle auch unter Politikern
Gleichzeitig wurden unter Bolsonaro die Kontrollen verschärft, Hunderttausende mussten das Programm wegen Betrugs oder Unstimmigkeiten bei der Registrierung verlassen. José Carlos Almeida erinnert daran, dass natürlich nicht nur unter der ärmeren Bevölkerung Betrüger seien. Es gebe Fälle von Politikern, die sämtliche Verwandte einschreiben würden, obwohl alle Arbeit hätten.
Obwohl viele die Schuld auf Bolsonaro schieben: Die Probleme bei Bolsa Família begannen früher, erinnert Neri. Seit 2015 würde das Programm ausgehöhlt, wurden Bezüge eingefroren, ohne Inflationsausgleich. Außer in den Jahren, in denen gewählt wird. "Letztlich hat man in diesen fünf Jahren eine Haushaltskonsolidierung auf Kosten der Ärmsten durchgeführt."
Mit dem Resultat, dass die extreme Armut, die zuvor unter Lula gesunken war, wieder anstieg: von 2014 bis 2018 um 67 Prozent. Für Neri ist es unbegreiflich, wieso das Programm nicht in den wirtschaftlichen Krisenjahren 2014 bis 2018 verstärkt wurde. Denn zum Ankurbeln der Wirtschaft und zur sozialen Absicherung der Ärmsten eigne es sich eigentlich perfekt.
Er sieht jedoch durchaus Gründe dafür, dass es Bolsa Família bald besser gehen wird. Schließlich finden im Oktober Kommunalwahlen statt. Sogar die Länge der Wartelisten könnte damit zusammenhängen, so Neri. "Zuerst überbringt man den Leuten die schlechte Nachricht, dass sie aus dem Programm rausgeflogen sind, und danach dann die gute Nachricht, dass sie doch wieder aufgenommen wurden. So kann man aus dem Nichts positive Botschaften kreieren."