Hält Armeniens friedliche Revolution an?
9. Dezember 2018Armenien hat der Welt gezeigt, Revolutionen müssen nicht blutig sein. Per Twitter-Kampagne, zivilem Ungehorsam und einer sprichwörtlichen Umarmungsstrategie gegenüber der Polizei haben die Armenier ihre Regierung vergangenen Mai gestürzt. Am Wahltag ist die Stimmung in dem kleinen Land im südlichen Kaukasus immer noch hoffnungsvoll.
"Bei der Wahl letztes Jahr habe ich nicht gewählt," erzählt der 21-jährige Gor Grigorjan. Er hat gerade seinen Wehrdienst an der Grenze zum verfeindeten Nachbarn Aserbaidschan beendet. "Wir wussten, da wird sich nichts ändern. Jetzt ist es anders. Wir können unser Land wirklich voran bringen", sagt er.
Auf den Straßen von Eriwan ist sich die Bevölkerung einig. Sie glauben immer noch an ihre "samtene Revolution".
Dabei schien es wenig Gründe dafür zu geben, dass sich die Lage im Land verbessern könnte. Armenien leidet bis heute unter dem fast vollständigen Zusammenbruch seiner Industrie in Folge des Zerfalls der Sowjetunion. Das Durchschnittseinkommen liegt bei umgerechnet 275 Euro im Monat. Ein Drittel der rund drei Millionen Einwohner lebt unter der Armutsgrenze.
Erst ein dreistes politisches Manöver zum Machterhalt des ehemaligen Regierungschef Sersch Sargsjan änderte die Stimmung im Land. Als dieser sich trotz gegenteiliger Versprechungen im April dieses Jahres nach zwei Legislaturperioden als Präsident von seiner Partei zum Premierminister wählen ließ, explodierte der Unmut bei den Armeniern. Viele glaubten, wenn sie jetzt nicht handelten, würde ihr Land endgültig zur einem korrupten Einparteienstaat.
"Die Proteste müssen friedlich bleiben"
Der Unmut entlud sich in zivilem Ungehorsam. Eine Woche lang blockierten hunderttausende Armenier Straßen im ganzen Land - mit gemeinschaftlichen Picknicken und Demonstrationen auf der Fahrbahn. Die Hauptstadt Eriwan lag vollkommen lahm. Ein Armenier im Osten des Landes beschrieb die Stimmung als die "fröhlichste Apokalypse der Welt".
"Die Proteste müssen friedlich bleiben. Liebe und Respekt für alle. Wenn du dich daran hältst, kannst du sonst machen, was du möchtest." Das hätten sie gebetsmühlenartig wiederholt, erzählt Maria Karpetjan. Die 30-jährige Konfliktforscherin hatte mit Freunden über die sozialen Medien zu den Protesten aufgerufen.
Die Bevölkerung nahm die Anweisungen wörtlich. Polizisten wurden angesungen, bekamen Blumen geschenkt und immer wieder waren Sprechchöre zu hören, die verkündeten: "Die Polizei gehört zu uns! Die Polizei gehört zu uns!" Ihr Hashtag #VerweigertSersch wurde zum Slogan der Proteste. Gleichzeitig rief die politische Opposition den späteren Premierminister Nikol Paschinjan zu friedlichem, zivilem Ungehorsam auf.
Paschinjan mauserte sich während der Proteste zum Anführer der Bewegung. Dann wurde er verhaftet und galt schlagartig als Märtyrer und Revolutionsheld. Gleichzeitig kochte die Stimmung weiter hoch. Nach einem Tag im Gefängnis kam Paschinjan wieder frei und Regierungschef Sersch Sargsjan trat zurück. Zwei Wochen später wurde Paschinjan unter weißem Konfetti-Regen zum Premierminister gewählt.
Was kommt als nächstes?
Paschinjan hatte nach seiner Wahl im Mai versprochen, zu seiner demokratischen Legitimierung möglichst bald Neuwahlen auszurufen. Das ist keineswegs uneigennützig. Denn das von ihm neu gegründete Parteienbündnis "Take a step" liegt in Umfragen derzeit bei weit über 60 Prozent der Stimmen. Die republikanische Partei wird voraussichtlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern und den Einzug ins neue Parlament verpassen.
Die Erneuerung der politischen Klasse scheint zu funktionieren. Nur wenige in Paschinjans Parteienbündnis sind über 50 und waren vor der Revolution Berufspolitiker. Viele sind junge Akademiker, arbeiten als Wissenschaftler, Journalisten oder in Think Tanks.
Hoffnungsträger Nikol Paschinjan
"Die Erwartungen der Bevölkerung sind viel zu hoch", sagt Olya Azatyan. Sie ist die Südkaukasus Projektkoordinatorin der Heinrich-Böll-Stiftung und sitzt in Eriwan. Die Probleme in Armenien seien über Jahrzehnte vernachlässigt worden. Dafür gebe es keine schnellen Lösungen.
Azatyan hat Sorge, dass die Stimmung wieder kippt, wenn die Armenier merken, dass Politik ein langfristiges Geschäft ist. "Die öffentliche politische Debatte hier ist immer noch sehr populistisch. Es muss - auch mit der Bevölkerung - offener über langfristige politische Strategien gesprochen werden."
Über zu viel Macht von Paschinjans Parteienbündnis oder Paschinjan selbst macht sich Azatyan keine Sorgen. Das ganze Land sei seit der Revolution politisiert. "Wir haben gerade erst eine Partei und ihren Anführer weggejagt. Wenn Paschinjan sich nicht an die Regeln hält, wird ihm das gleiche passieren. Da mache ich mir keine Sorgen."