Argentinien: Die WM-Party soll niemals enden
19. Dezember 2022Die Achterbahn der Gefühle in Buenos Aires war in den Mittagsstunden Ortszeit überall zu hören und zu sehen. Nach der 2:0-Halbzeitführung tanzten die Menschen nicht nur am Obelisken im Stadtzentrum, sondern auch auf den Balkonen. Doch dann folgten Schreie des Entsetzens. Gleich zweimal glichen die Franzosen die Führung der Argentinier aus, zweimal waren überall verzweifelte "No, No!"-Rufe aus den Wohnzimmern, den Cafés oder Restaurants zu hören. Doch Argentinien wäre nicht Argentinien, wäre vor dem WM-Triumph nicht auch eine große Portion Leidensfähigkeit notwendig gewesen. Und so explodierte nach einer zwischenzeitlichen Totenstille schließlich am frühen argentinischen Nachmittag die Freude im ganzen Land.
Die Nation, die so sehr in zwei politische Lager gespalten ist, findet an diesem Tag zusammen. Lagerfeuerstimmung. Die Journalistin Pola Oloixarac von der Tageszeitung "La Nacion" beschreibt das verbindende Element der "Albiceleste" mit einem durchaus passenden Vergleich: "Die Nationalmannschaft ist das, was die britische Krone für England ist. Sie vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl und lässt eine Frusttoleranz zu."
Messi spielt keine WM mehr
Nun strömen die Menschen aus der ganzen Stadt hin zum Obelisken. "Argentinien ist Weltmeister. Wir haben die Copa", rufen die Fans. Wirklich alle tragen das Trikot der argentinischen Nationalmannschaft, und so gut wie alle haben die Nummer 10 und Messi auf dem Rücken stehen. Der wurde kurz vorher im Fernsehen noch "unser Messias" genannt. In Argentinien ist Fußball eben auch Religion.
"Messi steht jetzt auf einer Stufe mit Maradona", sagt ein Fan, der sich "Messi, ich liebe dich" auf seine Haut geschrieben hat. Dann zieht er schnell weiter. Alle wollen zum Obelisken. Für die, die unter 40 Jahre alt sind, ist es der erste WM-Triumph überhaupt. Vor allem die Jungen feiern deswegen ausgelassen.
Wer wird die neue Nummer 10?
Eine Achterbahn der Gefühle steht den argentinischen Fans auch in den nächsten Jahren vor. Denn irgendwann wird Weltstar Lionel Messi das argentinische Nationaltrikot endgültig ausziehen. Eine WM wird er nicht mehr spielen, kündigte Messi an. Ob es noch einmal eine Copa America 2024 zu Messis Abschied in Argentinien gibt, wie einige am Rio de la Plata spekulieren, ist bislang nur ein Gerücht. Aber eines, dass von Messi selbst befeuert wird: "Ich genieße die Nationalmannschaft und möchte noch ein paar Spiele als Weltmeister spielen", sagte der "Messias" und öffnete damit die Tür für die Gerüchte ein Stück weiter.
Messi hat in den vergangenen Jahren die beiden fehlenden Lücken in seinem Lebenslauf geschlossen: Die Copa America und die Weltmeisterschaft sind gewonnen. Damit ist sein Lebenstraum erfüllt, der Fluch der Titellosigkeit im argentinischen Trikot überwunden. Jetzt geht es ans Genießen.
Aber was kommt danach? Messi war für in der argentinischen Mannschaft bei dieser WM so dominant wie nie zuvor bei einem Weltturnier. Mit ihm wird auch Angel di Maria gehen. Die beiden Torschützen des WM-Endspiels - Angel di Maria hatte auch die Copa America in Brasilien für Argentinien entschieden - werden 2026 nicht mehr dabei sein. Es rückt eine erstklassige Generation nach. Aber wer soll die Mannschaft führen, soll in die Fußstapfen treten? Wer trägt die Nummer zehn, wenn Messi einmal nicht mehr will? Nationaltrainer Lionel Scaloni hat bereits halb im Scherz, halb ernst gemeint: Die Nationalmannschaft könne ihm diese Nummer freihalten, für den Fall, dass er es sich mit einem WM-Start 2026 noch einmal anders überlegt.
Wann kommt der nächste Jahrhundertspieler?
Seit 1978 - also seit 44 Jahren - hat Argentinien erst zwei Weltmeisterschaften erlebt, an denen keiner der beiden Weltstars Maradona und Messi teilgenommen hat: 1998 war im Viertelfinale Schluss, 2002 scheiterte Argentinien sogar in der Vorrunde. Dass der argentinische Fußball immer wieder neue Talente hervorbringt, die Weltklasseniveau haben, steht außer Zweifel. Aber Jahrhundertspieler wie Messi oder Maradona wachsen auch in Argentinien nicht auf den Bäumen.
Wenn die Mannschaft erst einmal alle Feierlichkeiten absolviert, wenn die meisten Spieler zurück im eiskalten europäischen Winter sind, dann werden die Fragen aktuell. Anders als früher wird es allerdings in der WM-Qualifikation einfacher. In der Vergangenheit galten die "Eliminatorias" als ein zweijähriger knüppelharter Marathon von 18 Spieltagen, nach deren Ende sich nur vier südamerikanische Mannschaften direkt für die Endrunde qualifizierten. Durch die Aufstockung der WM 2026 von 32 auf 48 Teams hat die Qualifikation an Gefahr und damit auch an Reiz verloren. Für Mannschaften wie Argentinien und Brasilien, die in der Vergangenheit gelegentlich auch mal knapp an einer Nicht-Teilnahme vorbeischlidderten, wird es diese Gefahr praktisch nicht mehr geben. Aber daran denkt in Argentinien sowieso niemand mehr.