Architekt der Ostverträge: Egon Bahr ist tot
20. August 2015Politik, das war sein Leben - bis zuletzt. Noch Ende Juli dieses Jahres war Egon Bahr in Moskau, um an der Seite des früheren sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow das zu tun, was er immer gemacht hatte: Vermitteln. Der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierende Krise zwischen Deutschland und Russland sorgten Bahr sehr. Der Faden zu Moskau dürfe nicht abreißen, betonte der Sozialdemokrat immer und immer wieder. Gerne auch in Vorträgen, Diskussionsrunden und Fernseh-Talkshows, die Bahr trotz seines fortgeschrittenen Alters wach und präsent bestritt.
Bis zuletzt hatte er auch ein Büro in der SPD-Parteizentrale in Berlin, das einzige übrigens im Willy-Brandt-Haus, in dem offiziell geraucht werden durfte. Dort war Bahr häufig anzutreffen und mischte sich im Hintergrund gerne in die aktuelle Politik ein.
Viele in der Partei mochten das. SPD-Chef Sigmar Gabriel sagt zum Tod Bahrs, er werde "Egon auch als Freund und Ratgeber sehr vermissen". Er trauere um einen "mutigen, aufrichtigen und großen Sozialdemokraten, den Architekten der deutschen Einheit, Friedenspolitiker und Europäer", so Gabriel. "Wir werden seine analytische Brillanz, seine Rationalität und Leidenschaft, aber auch sein Temperament und seinen liebenswürdigen Humor sehr vermissen."
An der Seite Willy Brandts
Ähnlich äußert sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, der Bahr einen Freund und ein Vorbild nennt. "Auch wir beide haben uns bis zuletzt oft über die drohende Spaltung des europäischen Kontinents ausgetauscht", so Steinmeier. "Mich hat tief beeindruckt, mit welch unverwechselbarer Mischung aus Klugheit und Geschick, Geduld und Beharrlichkeit es ihm gelungen ist, für seine Überzeugungen zu werben und die Welt tatsächlich zu verändern."
Freund und Ratgeber war Egon Bahr aber insbesondere für Willy Brandt, der ihn 1960 als Regierender Bürgermeister von Berlin an seine Seite holte und an die Spitze des Presse- und Informationsamtes setzte. Bahr hatte zuvor als Journalist und Korrespondent in Hamburg und Bonn für den Berliner Tagesspiegel gearbeitet, war 1950 zum Berliner "Rundfunk im amerikanischen Sektor" (RIAS) gewechselt und 1953 dessen Chefredakteur geworden. Dort verfolgte er hautnah den Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953 mit. Damals, so sagte Bahr später, sei er ein Kalter Krieger gewesen.
Wandel durch Annäherung
Eine politische Haltung, die sich in den folgenden Jahren grundlegend änderte. Bahr entwickelte die Meinung, dass Veränderungen im von Russland geführten "Ostblock" nur langfristig in Form vieler kleiner Schritte und in einem Klima der Entspannung erfolgen könnten, vor allem aber nur mit Billigung Moskaus. Im Kalten Krieg waren politische Gedanken dieser Art Affront und Sensation zugleich. Es galt das Postulat einer "Politik der Stärke" gegenüber dem "Ostblock". Öffentlich stellte Egon Bahr sein Konzept erstmals 1963 in einem Vortrag an der Evangelischen Akademie Tutzing vor. Titel des Konzepts: "Wandel durch Annäherung".
Politisch mündete das Konzept in die neue Ost- und Deutschlandpolitik unter Willy Brandt, der 1969 Bundeskanzler wurde. Egon Bahr folgte ihm als Staatssekretär nach Bonn ins Kanzleramt. Mit Moskau und Warschau verhandelte er über Verträge zu einem Gewaltverzicht und einer Normalisierung der Beziehungen.
Er suchte zudem die Annäherung an die DDR, um das deutsch-deutsche Verhältnis zu verbessern, unter anderem wurde ein Transitabkommen geschlossen. "Er war der Bauherr, ich der Architekt", sagte Bahr einmal über die Aufgabenverteilung zwischen Brandt und ihm. 1972 wurde Bahr Bundestagsabgeordneter und Bundesminister für besondere Aufgaben und setzte die Ost- und Deutschlandpolitik in dieser Funktion fort.
Tränen in der SPD-Fraktion
Aus der Freundschaft zu Willy Brandt ergibt sich, dass Bahr dessen Rücktritt als Bundeskanzler nach der Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume 1974 im Nachhinein als einen der größten Tiefschläge seines Lebens empfand. Als Herbert Wehner, damaliger Chef der SPD-Bundestagsfraktion, in der Fraktionssitzung am 7. Mai 1974 anlässlich von Brandts Rücktritt ausrief: "Willy, du weißt, wir alle lieben dich", schlug Bahr die Hände vors Gesicht und hatte einen Weinkrampf. Das wurde gefilmt. Wie er später sagte, empfand er Wehners Ausruf als unfassbaren Gipfel von Heuchelei, da er der Auffassung war, dass Wehner den Sturz von Brandt seit langem betrieben und am Ende mit bewirkt hatte.
Politisch blieb Egon Bahr dennoch aktiv und wurde unter Brandts Nachfolger Helmut Schmidt Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Nach der Bundestagswahl 1976 schied er aus dem Kabinett aus und widmete sich neben seiner Arbeit als Bundestagsabgeordneter fortan vor allem der Parteiarbeit. Abrüstungs- und Friedenspolitik blieben seine wichtigsten Themen, auch über Parteigrenzen hinweg.
So suchte er schon 1990 auch das Gespräch mit dem damaligen Vorsitzenden der SED-Nachfolgepartei PDS, Gregor Gysi. Der würdigt Bahr nach seinem Tod als "hochintelligenten, einfühlsamen und rhetorisch sehr begabten Politiker". Es sei "so imponierend" gewesen, dass Bahr "nicht im Geringsten von außen gegen seinen Willen zu beeindrucken war".
Anerkennung von vielen Seiten
Bahrs Engagement für eine weltweite Friedenspolitik würdigt auch Bundespräsident Joachim Gauck in einem Kondolenzbrief an Egon Bahrs Witwe Adelheid. "Durch sein gesamtes Wirken zog sich wie ein roter Faden die Erkenntnis, dass wir alle voneinander abhängig sind", so der Bundespräsident. "Er handelte aus der festen Überzeugung, dass eine weltweite Sicherheits- und Friedenspolitik möglich ist und dass wir alle mit Nachdruck daran arbeiten müssen." Mit seinem Einsatz für eine Aussöhnung mit den Ländern des Ostens habe Bahr gezeigt, "dass uns Deutschen Geschichte gelingen kann".
Auch FDP-Chef Christian Lindner würdigt Egon Bahr. "Die neue Ostpolitik war ein Verdienst von Egon Bahr. Die Freien Demokraten trauern um einen großen Mann", twitterte Lindner.