Blinder Fleck Antisemitismus in Indonesien
28. Juni 2022Ein paar Tage hatte das Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa der documenta 15 gebraucht, um auf den Skandal zu reagieren, den die antisemitischen Motive auf dem großformatigen Wimmelbild "People's Justice" der Künstlergruppe Taring Padi hervorgerufen hatte. Am vergangenen Donnerstag stellte Ruangrupa, zunächst nur auf Englisch, eine Erklärung ins Netz. Dort heißt es unter anderem: "Die Wahrheit ist, dass wir es gemeinsam versäumt haben, die Figur (Singular hier und weiter im Original – Red.) in dem Werk zu erkennen, die an klassische Stereotypen des Antisemitismus erinnert. Wir räumen ein, dass dies unser Fehler war. In Absprache mit Taring Padi unterstützen wir die Entscheidung, das Werk in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Werten (des Künstlerkollektivs) zu entfernen".
Zur Erinnerung: Das zunächst verhüllte, dann entfernte Bild von Taring Padi zeigt unter anderem einen Soldaten mit Schweinsgesicht und Davidstern, der auf dem Kopf einen Helm mit der Aufschrift "Mossad" trägt. Ebenfalls zu sehen ist ein Mann mit blutunterlaufenen Augen und Vampirgebiss und Haartracht im Stil orthodoxer Juden, auf dessen Hut SS-Runen prangen.
Die Kuratoren und das künstlerische Team entschuldigen sich "für (die Gefühle von) Enttäuschung, Scham, Frustration, Verrat und den Schock", den die antisemitischen Motive "bei Betrachtern und dem ganzen Team" ausgelöst haben.
"Antisemitische Fehlgriffe von engagierten Künstlern"
Die Kuratoren, und mitgemeint die Künstler, deuten in ihrer Erklärung an, sich über die Tradition des deutschen Antisemitismus einschließlich seiner mit demagogischer Bildsymbolik vorangetriebenen Propaganda nicht hinreichend informiert zu haben: "Diese Bildersprache knüpft, wie wir jetzt wissen, nahtlos an die schrecklichste Episode der deutschen Geschichte an, in der jüdische Menschen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verfolgt und ermordet wurden … Deshalb werden wir diese Gelegenheit wahrnehmen, um uns tiefere Kenntnisse über die grauenhafte Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus anzueignen."
Der an der Universität Bonn lehrende Südostasienwissenschaftler Timo Duile verweist im DW-Interview auf die spezifischen Umstände, unter denen sich die linken Bewegungen verbundenen Künstler in Indonesien artikulierten. Duile verweist auf das Schlüsseljahr 1965. Damals hatte der General Suharto einen kommunistisch inspirierten Putschversuch indonesischer Militärs niederschlagen lassen; Im Zuge einer darauf folgenden "Säuberungsaktion" wurden bis zu einer Million tatsächliche oder angebliche Kommunisten ermordet. Suharto regierte gestützt auf sein System der sogenannten "Neuen Ordnung" diktatorisch bis 1998. In der Erklärung von Ruangrupa heißt es, "das im Kollektiv hergestellte Bild bezieht sich auf die dunkle Geschichte Indonesiens unter der Neuen Ordnung, die juristisch und gesellschaftlich nicht aufgearbeitet wurde."
Seit jener Zeit hätten linke Künstler in Indonesien nach Symbolen gesucht, um ihrer Kritik Ausdruck zu verleihen, sagt Duile. Dabei seien auch unangemessene - und das heißt auch: antisemitische - Symbole verwendet worden, so etwa das Stereotyp des raffgierigen Juden. Es sei möglich, dass die Künstler mit solchen Bildern Kapitalismus und Unterdrückung hätten symbolisieren wollen, räumt Duile ein. Genau das sei aber problematisch. "Denn eine solche Symbolik kritisiert nicht die kapitalistischen Systeme und die Produktionsweisen, die menschliche Arbeitskraft ausbeuten. Stattdessen suggeriert sie, gierige Juden seien Ursache der sozialen Probleme. Für jüdische Menschen auf der ganzen Welt hat das verheerende Folgen."
"Hoffentlich lernen die Künstler aus dem Fehler"
Die Verwendung von Symbolen aus der Nazi-Zeit durch Taring Padi sei gefährlich und falsch, sagt Duile. "Soweit ich aber weiß, hassen die betreffenden Künstler die Juden nicht, sie wollen die Juden nicht vernichten, wie es die Nazis oder einige fanatische Muslime tun wollen. Ich erinnere mich an ein Plakat von Taring Padi, das für den interreligiösen Frieden wirbt und auf dem auch der Davidstern abgebildet ist, was die Anerkennung des jüdischen Glaubens bedeutet, obwohl das Judentum in Indonesien nicht offiziell anerkannt ist." Klar sei aber: "Die Verwendung jüdischer oder nationalsozialistischer Symbole als Mittel zur Symbolisierung kapitalistischer Unterdrückung kann schwerwiegende Folgen für jüdische Menschen haben."
Die Verwendung antisemitischer Motive sei ein Fehler gewesen, sagt auch Bambang Murdiyanto, einer der bekanntesten indonesischen Journalisten. Antisemitismus lasse sich durch nichts rechtfertigen. Die Chefredakteurin des Kunstmagazins "Monopol" Elke Buhr wies im NDR darauf hin, dass das Bild "People's Justice" 20 Jahre alt ist und schon in Australien und in vielen Ländern des globalen Südens gezeigt wurde, ohne dass es dabei zu Protesten gekommen wäre. Sie wundere sich allerdings, dass die Macher der Documenta beim Aufbau des Riesenbildes "nicht kritischer draufgeguckt haben". Der Journalist Murdiyanto sagt, die Reaktion in Deutschland könne er angesichts der Verfolgung und Vernichtung der Juden unter dem Nationalsozialismus nachvollziehen. Er hoffe, dass die Diskussion um die antisemitischen Motive in dem Bild nach dessen Entfernung von der Documenta für die Künstlergruppe nicht abgeschlossen ist, und "dass Taring Padi aus diesem Vorfall lernen kann."
Antisemitismus wird nicht thematisiert
Tatsächlich hat der indonesische Staat ein problematisches Verhältnis zu Israel. Bis zum Jahr 2018 durften israelische Staatsbürger nicht nach Indonesien einreisen. Bis heute unterhalten die beiden Staaten keine diplomatischen Beziehungen. In dem Land mit 273 Millionen Einwohnern, rund 230 von ihnen Muslime, leben kaum Juden, es sind weniger als 200. "Aus Angst vor Anfeindungen geben sie sich öffentlich nicht zu erkennen", sagt der Südostasien-Korrespondent der ARD, Hoger Senzel. Die religiöse Toleranz, für die Indonesien einst bekannt war, sei auf dem Rückzug. Radikale islamische Gruppierungen hätten an Einfluss gewonnen. "Immer wieder kommt es zu Übergriffen auf christliche Kirchen. Zwar existiert in Jakarta eine Synagoge, aber kaum jemand widerspricht öffentlich dem Judenhass."
Der Antisemitismus sei in Indonesien niemals ernsthaft diskutiert worden, sagt die in Berlin lebende indonesische Menschenrechtsaktivistin Basilisa Dengen. In der öffentlichen Debatte Indonesiens sei er kein Thema. "Auch im Kontext des Unterrichts zum Zweiten Weltkrieg an den Schulen wird über den Holocaust nicht gesprochen."
Eines seiner Motive findet der Antisemitismus in Indonesien in der kolonialen Vergangenheit des Landes. In den Reihen der Niederländer, die das Land im 16. Jahrhundert kolonisierten, waren auch Juden. "Bis heute werden Juden mit der kolonialen Ausbeutung verbunden", sagt Senzel. "In so einem gesellschaftlichen Klima gibt es kaum Sensibilität für Antisemitismus, auch nicht in der Kunstszene."