Der Mythos von den antiken weißen Statuen
24. Januar 2023Wenn man sich vor 2500 Jahren dem Aphaiatempel auf der griechischen Insel Ägina näherte, stieß man zunächst auf die Skulptur eines jungen Bogenschützen. Er war in leuchtenden Farben bemalt - in der Antike ein gängiges Mittel, um Figuren möglichst lebensecht aussehen zu lassen.
"Lasst eure Augen zum Himmel aufsteigen und seht euch die gemalten Reliefs des Giebels an", schrieb der griechische Dramatiker Euripides um 408 v. Chr. in seinem Theaterstück "Hypsipyle" über den Tempel.
In vielen zeitgenössischen antiken Schriften ist dokumentiert, dass marmorne Skulpturen nicht weiß belassen, sondern bunt bemalt wurden. Dennoch ist es heute schwer vorstellbar, dass die klassischen Statuen ursprünglich in allen Farben leuchteten. Dass der Mythos von den rein weißen Statuen entstand, hat viele Ursachen. Eine davon reicht zurück ins 15. Jahrhundert.
Farben waren verblasst
"Diese seltsame Vorstellung von farblosen Skulpturen stammt aus der Renaissance, als die Form über die Farbe gestellt wurde", sagte der Archäologe Vinzenz Brinkmann 2020 in einem DW-Interview. "In Rom gab es damals eine erhöhte Bautätigkeit, eine Skulptur nach der anderen wurde gefunden. Und die hatten keine Farben mehr." Die bunten Farben waren in den Jahrhunderten schlichtweg verblasst - aber das wusste man damals einfach nicht.
Und so passten die weißen Statuen hervorragend zum Geschmack jener Zeit: eine von Gott inspirierte Schlichtheit ohne Ablenkung vom Wesentlichen durch Farbe oder schmückendes Beiwerk. Die Künstler der Renaissance gestalteten ihre Werke entsprechend und trugen so zur Entstehung des Mythos der weißen Statuen bei.
"Von Barbaren bepinselt"
Und er hielt sich hartnäckig. Wenn bei Funden deutliche Farbreste entdeckt worden seien, habe man "gezielt daran vorbei geguckt", erklärt Brinkmann. "Häufig hieß es dann auch: Das sind spätere Zutaten von Barbaren, die an den Statuen herumgepinselt haben." Man habe der Öffentlichkeit die Wahrheit absichtlich vorenthalten, um den gesellschaftlichen Idealen zu entsprechen, führt er aus.
Brinkmann und seine Frau, die Archäologin Ulrike Koch-Brinkmann, haben gemeinsam die Wanderausstellung "Bunte Götter" entwickelt. Sie tourt seit 2003 rund um den Globus. Gezeigt werden über 100 Nachbildungen antiker Skulpturen, bemalt in bunten Farben. Die Farbgestaltung basiert auf Annahmen, wie die Figuren in der Antike ausgesehen haben könnten - und auch auf Farbspuren, die mittels moderner Technologie gefunden und identifiziert wurden. Die Brinkmanns und ihr Team sind auch an der aktuellen Ausstellung "Chroma. Antike Skulpturen in Farbe" im Metropolitan Museum Of Art in New York City beteiligt, die noch bis Ende März 2023 läuft.
Moderne Vorstellungen von Rassismus
Die weißen Statuen der Antike passten auch perfekt ins Weltbild der weißen Europäer des 18. Jahrhunderts. Das Weiß stand für Reinheit und Klarheit, was dem Zeitgeist entsprach. Farben standen dagegen für öffentlich verpönte Sinnlichkeit. So hoben sich die weißen Skulpturen von den bunt verzierten Kunstwerken anderer Kulturen ab.
"Historisch gesehen legen Gesellschaften bei der Betrachtung der Welt ihre eigenen ideologischen Maßstäbe an", so Nikos Stampolidis, Generaldirektor des Akropolis-Museums, im DW-Interview. "Die Menschen der damaligen Zeit bewunderten die Schlichtheit der weißen Farbe des Marmors. Das passte zu ihren Vorstellungen von der Überlegenheit der weißen Menschen."
Das Bemalen der Statuen war alltägliche Praxis
Die Ausgrabungen in Pompeji im 18. Jahrhundert hätten beweisen können, dass das Bemalen der Statuen und Skulpturen in der Antike alltägliche Praxis war. Die Stadt wurde im Jahr 79 n. Chr. bei einem Vulkanausbruch verschüttet. Unter der Asche sind die Farben auf den Statuen gut konserviert worden. Doch das wurde geflissentlich verschwiegen.
Auf der Webseite zu "Bunte Götter"heißt es, dass "ungeeignete Untersuchungsmethoden und unterschiedliche Auslegungen antiker Textquellen" Zweifel daran entstehen ließen, ob die Statuen bemalt waren.
Eins der bekanntesten Beispiele für eine antike Statue, auf der Farbreste gefunden wurden, ist die "Peploskore", eine etwa 1,20 Meter große Statue eines Mädchens, entstanden um 530 v. Chr. Das Mädchen aus Marmor von der Insel Paros war im 19. Jahrhundert im Zuge umfangreicher Ausgrabungen auf der Akropolis entdeckt worden. Die Archäologen fanden orangefarbene Spuren im Haar der Figur und dokumentierten das auch. Allerdings fertigten sie Kopien aus Gips an, um diese auf Weltausstellungen zu schicken. Auch das führte dazu, dass sich das Bild der weißen antiken Statue festigte.
Hitler und die weißen Skulpturen
Im 20. Jahrhundert machten sich die Faschisten die Idee, dass weiße antike Figuren die Überlegenheit der "weißen Rasse" symbolisieren, zu eigen. Sowohl Benito Mussolini als auch Adolf Hitler lobten vor allem die Kunst und Architektur des antiken Griechenlands und Roms und deren Wiederauferstehung in der Renaissance.
Für die Nationalsozialisten bedeuteten diese Figuren die perfekte Visualisierung der mythischen arischen Rasse - besonders beliebt waren die Darstellungen von Männern mit gestählten Oberkörpern. Hunderte solcher Skulpturen ließ Hitler von seinen Haus- und Hofbildhauern anfertigen, um das Bild der arischen Herrenrasse im ganzen Reich zu manifestieren.
Die Bedeutung der Farben in der Antike
Man nimmt an, dass die vielen Farben, die für die antiken griechischen Statuen verwendet wurden, besondere Bedeutungen hatten - eine Idee, die das Athener Akropolis-Museum in seiner Ausstellung "Archaische Farben" untersucht hat.
Blondes Haar, das typischerweise bei griechischen Göttern, Kriegern und Athleten zu sehen war, symbolisierte Macht. Ein grauer Hautton stand für Tugend und Tapferkeit, während die weiße Haut junger Frauen "Anmut und Glanz der Jugend vermittelte", wie es in der Beschreibung des Museums heißt.
Farben wurden in der antiken griechischen Kunst auch häufig zur Unterscheidung der Geschlechter verwendet: Männer wurden mit dunkleren Hauttönen dargestellt, da sie üblicherweise im Freien arbeiteten, während Frauen oft weiß gemalt wurden, da sie sich idealerweise im Haus und außerhalb der Sonne aufhielten.
Marmor ist nicht gleich Marmor
Ausstellungen wie "Bunte Götter" und die aktuelle Ausstellung im Metropolitan Museum of Art tragen dazu bei, den Mythos von der klassischen weißen Skulptur zu zerstören.
Trotzdem glaubt Nikos Stampolidis vom Akropolis-Museum, dass solche Ausstellungen einen "falschen Eindruck" davon vermitteln, wie Farben wirklich aussahen. Um antike Statuen so realitätsnah wie möglich zu rekonstruieren, müsse man eine Marmorsorte nehmen, und auf diesem Material sollte man versuchen, entweder mineralische oder pflanzliche Farben zu verwenden, wie sie in der Antike hergestellt wurden, so Stampolidis gegenüber der DW. Er weist darauf hin, dass jede Marmorsorte eine andere kristalline Zusammensetzung hat: "Manche sind größer, andere kleiner, manche haben mehr oder weniger helle Eigenschaften."
Für Stampolidis ist die Forschung noch lange nicht am Ende. Gerade erst öffnen sich die Tore zu einer bisher unbekannten bunten antiken Welt.
Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch