Demos: Welche Aussagen sind antisemitisch?
25. Mai 2021Mitten auf den Straßen Deutschlands wird Juden der Tod gewünscht. Vor Synagogen schreien aufgebrachte Protestler antijüdische Parolen und Drohungen heraus, verbrennen israelische Fahnen. Der unverhohlene Hass, die Wucht der Wut, die sich in der Folge des eskalierenden Nahost-Konflikts entluden, wühlten Politik und Öffentlichkeit auf.
Rufe wie "Tod den Juden" und das Verbrennen israelischer Fahnen sind deutlich erkennbarer Antisemitismus. Doch auf anti-israelischen Demonstrationen werden immer wieder Parolen gerufen und Transparente gezeigt mit Aussagen, die nicht auf den ersten Blick als Antisemitismus erkennbar sind.
Deshalb hat die DW zwei Experten gebeten, exemplarische Aussagen einzuordnen: Daniel Poensgen vom Bundesverband Report Antisemitism RIAS und Tom Uhlig von der Bildungsstätte Anne Frank. Beide orientieren sich in ihren Einordungen an der Antisemitismus-Definition der Internationalen Allianz für Holocaustgedenken (International Holocaust Remembrance Alliance - IHRA). Demnach richtet sich Antisemitismus "in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Die 1998 gegründete Organisation fördert Bildung, Erinnerung und Forschung zum Holocaust. Ihre Definition soll für ein weltweites Verständnis von Antisemitismus sorgen, als Grundvoraussetzung für dessen wirksame Bekämpfung.
Die deutsche Bundesregierung schloss sich 2017 der IHRA-Arbeitsdefinition an und erweiterte sie um den Zusatz: "Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Die IHRA-Arbeitsdefinition hat zwar keine rechtlich bindende Wirkung, dient aber zur Orientierung. So wird sie in Deutschland unter anderem von Polizeibehörden in der Ausbildung genutzt. Obwohl es auch Kritik an der Definition gibt, sie würde zu schnell Kritik am Staat Israel als antisemitisch brandmarken, ist die IHRA-Definition die weltweit wohl maßgeblichste Antisemitismus-Definitionen und wird von großen jüdischen Verbänden wie dem Zentralrat der Juden unterstützt.
Welche der Aussagen, die Protestierende skandieren oder auf Pappschildern hochhalten, überschreiten also eine rote Linie, sind von Antisemitismus befeuert - und welche sind legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung? Gibt es einen historischen Kontext?
Poensgen und Uhlig haben einige Aussagen schriftlich analysiert. Nicht immer lässt sich eine Aussage als eindeutig antisemitisch klassifizieren. Alle Aussagen sind auf Fotos, Videos und TV-Beiträgen von Demonstrationen in Berlin am 15. Mai dokumentiert.
"Hört auf zu tun, was Hitler Euch angetan hat"
(Die englischsprachige Original-Aussage auf einer Demonstration lautete: "Stop doing what Hitler did to you")
Daniel Poensgen vom Bundesverband Report Antisemitism RIAS*: "Es ist antisemitisch, das Agieren Israels mit der Schoa und den Verbrechen der Deutschen in den Zeiten des Nationalsozialismus gleichzusetzen. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist Teil eines Schuldabwehr-Antisemitismus: Das eigene, beispielsweise nationale oder religiöse Kollektiv wird dabei als Schuldfrei imaginiert, während man die historischen Opfer zu ebenso schlimmen Täter_innen macht - und somit die Verbrechen der Nazis legitimiert. Formen der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr sind in Deutschland weit verbreitet, wie zuletzt auch zahlreiche Demonstrationen gegen die Corona-Politik gezeigt haben: Hier inszenierten sich viele Teilnehmer_innen als verfolgte Jüdinnen_Juden von heute, wenn sie beispielsweise sogenannte Judensterne mit der Inschrift 'ungeimpft' trugen."
(*Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. wurde 2018 in Berlin gegründet. Mit Hilfe seines Meldeportals www.report-antisemitism.de erfasst und dokumentiert er bundesweit antisemitischer Vorfälle.)
"Zionismus – Terrorismus"
(Original "Zionism = Terrorism")
Tom Uhlig von der Bildungsstätte Anne Frank*: "Der Zionismus ist eine komplexe und sehr heterogene Bewegung, in deren Zentrum der Wunsch nach einer eigenen Heimat für Jüdinnen und Juden steht. Neben religiösen Motiven steht dahinter auch der Gedanke, vor Verfolgung sicher zu sein. Die Gleichsetzung von Zionismus mit Terrorismus soll den israelischen Staat delegitimieren und ist deshalb als antisemitisch zu bewerten."
(*Als Zentrum für politische Bildung und Beratung mit Hauptsitz in Frankfurt am Main sensibilisiert die Bildungsstätte Anne Frank bundesweit Jugendliche und Erwachsene für Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit. Seit ihrer Gründung 1994 orientiert sich die Bildungsstätte an der humanistischen Botschaft von Anne Franks Tagebuchs.)
"Baby-Mörder Israel"
Daniel Poensgen, RIAS: "Wenn zum Teil sehr alte antisemitische und antijudaistische Stereotype aktualisiert und auf Israel angewendet werden, ist das antisemitisch. Der Ruf "Baby-Mörder Israel" ist eine Abwandlung der Parole "Kindermörder Israel", welche von der Polizei mittlerweile regelmäßig im Rahmen von Demonstrations-Auflagen untersagt wird. Israel als "Kindermörder" zu bezeichnen, spielt auf antisemitische Ritualmordlegenden an, die bis heute in unterschiedlichen politischen Spektren verbreitet sind. Die Bezeichnung Israels als "Baby-Mörder" zielt ebenso darauf ab, den Staat zu dämonisieren und somit als illegitimen Akteur darzustellen."
"Freies Palästina. Gleiche Rechte"
(Original "Free Palestine. Equal Rights")
Daniel Poensgen, RIAS: "Es ist antisemitisch, die Befreiung Palästinas zu fordern, wenn damit die Abschaffung Israels und somit die Negierung des Rechts von Jüdinnen_Juden auf Selbstbestimmung gemeint ist. Dies ist beispielsweise in der Parole "From the river to the see, palestine will be free" der Fall: Hier wird durch die Skizzierung der Grenzen Palästinas deutlich, dass Israel vernichtet werden soll. In der Forderung "Free Palestine" ist dies jedoch nicht automatisch der Fall. Die Forderung nach gleichen Rechten ist nicht antisemitisch. Derartige Forderungen werden von RIAS nicht als antisemitische Äußerungen erfasst."
"Mohammeds Armee wird zurückkehren!"
Tom Uhlig, Bildungsstätte Anne Frank: "Hier verbindet sich Nationalismus mit islamischem Antijudaismus. Der Ruf bezieht sich auf den Feldzug Mohammeds im Jahr 628 gegen die von Juden besiedelte Oase Khaybar. [Anmerkung der Red.: Im heutigen Saudi-Arabien gelegen, etwa 150 Kilometer nördlich von Medina.] Hier wird eine antisemitische Vernichtungsdrohung ausgesprochen."
"Meine Stimme gegen Siedlungskolonialismus und ethnische Säuberung"
Daniel Poensgen vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus RIAS: "Es ist antisemitisch, Israel beispielsweise als koloniales oder rassistisches Gebilde zu bezeichnen. Wird diese Bezeichnung den historischen Fakten nicht gerecht, dient sie vor allem dazu, Israel als Nationalstaat zu delegitimieren und somit allein Jüdinnen_Juden das Recht auf (nationale) Selbstbestimmung abzusprechen."
"Sei nicht rassistisch. Liebe Palästina."
Im englischsprachigen Original "Don't be racist. Love Palestine")
Tom Uhlig, Bildungsstätte Anne Frank: "Liebe zu einer Nation einzufordern, weil man ansonsten rassistisch sei, legt ein ziemlich verqueres Verständnis von Rassismus nahe und suggeriert im Kontext der Demonstrationen, Solidarität mit Israel sei rassistisch motiviert. Der Kausalzusammenhang, der in der Aussage konstruiert wird, ist fadenscheinig, denn nicht nur in Israel gibt es Rassismus, auch in Palästina, vom Antisemitismus ganz zu schweigen."
"Liebe Deutschland, stoppt die Bewaffnung Israels"
(Im teils englischsprachigen Original " Liebe Germany, Stop Arming Israel")
Tom Uhlig: "Antimilitarismus ist eine legitime, vielleicht sogar notwendige politische Haltung. Einseitig auf Israel ausgelegt [Anmerkung der Red: wie in diesem Fall einer anti-israelischen Demonstration] bedeutet sie aber, zu wollen, dass der jüdische Staat schutzlos sein möge. Solange Waffenlieferungen an die Hamas zum Beispiel durch den Iran erfolgen, sind Waffenlieferungen an Israel eine Frage des Überlebens."
Antisemitismus ist als solcher kein eigener Straftatbestand in Deutschland, kann aber in Form der Volksverhetzung bestraft werden. Nach Paragraf 130 gilt der Tatbestand der Volksverhetzung, wenn gegen einzelne Menschen oder ganze Gruppen wegen ihrer Herkunft, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu Hass und Gewalt aufgerufen wird. Volksverhetzung wird mit Geld- oder Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren geahndet.