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Anti-Corona-Bewegung: bis in die bürgerliche Mitte

Luisa von Richthofen | Leonie von Hammerstein
30. September 2020

Zwar relativ überschaubar, und doch ein Warnzeichen: die Anti-Corona-Proteste. Der Antisemitismus-Experte Michael Blume zeigt sich besorgt über die Verbreitung von Gedankengut, das schon längst begraben schien.

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Querdenken-Bewegung | Demonstration der Initiative "Querdenken 711"
Bild: Christoph Schmidt/dpa/picture-alliance

Michael Blume ist Antisemitismus-Beauftragter der baden-württembergischen Landesregierung. Als Wissenschaftler beschäftigt er sich schon lange mit Verschwörungsmythen und damit, wie, wann und warum sie sich so schnell verbreiten. Am kommenden Sonntag wollen wieder Tausende gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung auf die Straße gehen, diesmal in Konstanz. Immer wieder ist die vielfältige Bewegung durch die Nähe zu Verschwörungsmythen und rechte Symbolik in die Kritik geraten. Die jüdische Gemeinde Konstanz hat ihn daher gebeten, auf der Gegen-Demonstration zu sprechen. 

DW: Herr Blume, für Sonntag ist eine Groß-Demo angesetzt, zu der die Stuttgarter Bewegung Querdenken 711 aufruft. Machen Sie sich Sorgen?

Blume: Ich würde nicht sagen, dass mir die Bewegung Sorge bereitet. Dafür ist ihre Zahl zu gering. Aber man muss sie ernstnehmen und muss sich ihnen auch entgegenstellen.  

Querdenken-Bewegung | Michael Blume - Antisemitismusbeauftragter
Michael Blume warnt vor uralten antisemitischen FeindbildernBild: Bernd Weissbrod/dpa/picture-alliance

Was macht die Protestbewegung so symptomatisch für unsere Zeit?

Hier in Stuttgart entsteht eine Protestkultur, "Wir gegen die da oben", meines Erachtens am ehesten zu vergleichen mit dem Beispiel der Gelbwesten in Frankreich. Die Menschen gehen auf die Straßen, sagen: "Ihr in der Zentrale, ihr in Berlin, ihr vernachlässigt uns. Ihr macht euch über uns lustig, ihr wertet uns ab jetzt, und jetzt wehren wir uns". Das sind also klassisch populistische Bewegungen, in der der Glaube herrscht, man könne die "Zentrale" von der Provinz her erobern und "aufräumen".  

Deutschland Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Berlin
Fühlen sich abgehängt von der Bundespolitik: die Anti-Corona-DemonstrantenBild: picture-alliance/dpa/C. Soeder

Das Land Baden-Württemberg ist reich, und die Institutionen funktionieren. Die Regionen haben also mehr Macht als im ultra-zentralistisch regierten Frankreich. Warum fühlen sich so viele Leute trotzdem abgehängt?

Das hat viele Gründe, aber eben auch stark damit zu tun, dass lokale Medien eingehen, vor allem die Zeitungen. Im Internet aber kommt Baden-Württemberg wenig vor. Wir haben in der Bundesregierung derzeit keine einzige Ressortministerin, keinen Ressortminister (aus Baden-Württemberg, d. Red.), als ein Bundesland, das immerhin größer ist als Österreich oder die Schweiz. Und da wird bis in die bürgerliche Mitte hinein das Narrativ genährt, dass man quasi von Berlin aus gar nicht wahrgenommen würde, weder politisch noch medial. 

Ken Jebsen
Auch er war eingeladen von Querdenken 711: Ken JebsenBild: Imago Images/APress

Dass Leute die Corona-Maßnahmen in Frage stellen und demonstrieren, ist ja nicht an sich ein Problem.

Man kann als Bewegung den Anspruch haben, dass man eine breite Querfront der Gesellschaft abbilden will. Aber man hat von Anfang an auch problematische Redner und Inhalte in Kauf genommen. Ken Jebsen zum Beispiel wurde als Hauptredner promotet, und der hat schließlich seinen Job als Moderator im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verloren, weil er unter anderem den Holocaust als "PR-Show" bezeichnet hat. Und der Vorwurf, dass die Pandemie nur von den Regierenden inszeniert und eine Verschwörung sei, ist natürlich nicht ohne.

Deutschland Berlin | Coronavirus | Protest gegen Maßnahmen, Flaggen
Immer wieder tauchen auf den Protesten auch rechte Symbole auf wie die ReichsflaggeBild: picture-alliance/Sulupress.de

Warum verstärkt eine Pandemie die Verbreitung dieser Mythen? 

Ja, das war immer wieder so. Wenn eine Pandemie aufgetreten ist in der Geschichte, dann haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder, dass wir uns der Angst und der Unsicherheit stellen und uns informieren, aber auch damit leben müssen, dass wir keine fertigen Antworten haben. Wir wissen zum Beispiel nicht, wann der Impfstoff kommt. Und die andere Variante ist eben das Abblocken: Ich nehme die Angst nicht an, sondern ich suche mir eine Gruppe, die daran schuld ist. Da brauche ich die nur noch anzuschreien und auf die Straße zu gehen. Und dann ist vermeintlich alles gut.

Sie sind also nicht überrascht darüber, welche Inhalte sich auf diesen Demos verbreiten?

Viele dieser Verschwörungsmythen gab es auch schon im 15. bis 19. Jahrhundert. Manchmal ist es sogar ein bisschen langweilig, weil es immer wieder die gleichen Versatzstücke sind. Da demonstrieren die Leute dann gemeinsam, obwohl sie links, Mitte, rechts sind. Aber was sie verbindet, ist das gemeinsame Feindbild. Und das ist das Wichtige: Die Leute sind so in ihren Ängsten fixiert, dass es nicht mal kreativ ist. Nie kommen die auf eine Weltverschwörung der Brasilianer oder eine Weltverschwörung der Quäker oder der Muslimbrüder, sondern immer, immer, immer stecken Juden und Frauen dahinter. 

Verschwörungsmythos QAnon |  Protest in München
Beliebt im Netz: der Verschwörungsmythos QAnonBild: Sachelle Babbar/ZUMA Wire/Imago Images

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich denke an den Adrenochrom-Mythos, den Xavier Naidoo verbreitet hat und aus den USA kommt. Demnach wird behauptet, dass Juden und Demokrat:innen Kinder foltern und aus denen Adrenochrom gewinnen. Ursprünglich ist der im 15. Jahrhundert tatsächlich hier im süddeutschen Raum entstanden. Damals hat man Juden und Frauen vorgeworfen, dass sie gemeinsam den Hexensabbat begehen und aus Kindern Hexen-Salbe gewinnen, eine Substanz, um fliegen zu können.  Es ist also ein Verschwörungsmythos, der jetzt durch die Digitalisierung  wieder auftaucht, so, wie er damals mit dem Buchdruck aufgekommen ist. 

Stuttgart Demonstration gegen die Corona-Beschränkungen
Immer wieder steht auch Bill Gates im Zentrum von VerschwörungsmythenBild: picture-alliance/dpa/S. Gollnow

Warum verbreiten sich heute Mythen, die vor ein paar Jahren noch als unsagbar galten?

Ich höre oft, dass Leute sagen: "Komisch, vor fünf Jahren konnte man mit meinem Onkel noch prima reden. Das war eigentlich ein lebenslustiger Typ, und jetzt murmelt er etwas davon, dass die Rothschilds Bill Gates finanziert haben." Und durch das Internet werden Leute da jetzt getriggert. In diesen Telegram-, WhatsApp-, und Chat-Gruppen passiert eine Normalisierung, die sonst nicht möglich wäre. So wird der Antisemitismus wieder buchstäblich salonfähig. Es sind eben keine Salons, sondern es sind halt digitale Echokammern. Wir haben Fälle, wo Leute innerhalb von zwei, drei Monaten ihre Meinung sehr ins Negative ändern.

Berlin I Proteste gegen Corona-Auflagen
Im August fanden die bisher größten Anti-Corona-Proteste in Berlin stattBild: Getty Images/AFP/J. MacDougall

Was kann man tun, um die Menschen wieder in den Diskurs zu holen?

Das Entscheidende ist, möglichst früh einzugreifen. Wenn jemand fünf, zehn, zwanzig Jahre da drinsteckt, dann wird es immer schwerer. Deswegen bauen wir Beratungsangebote aus. Wir gucken, dass wir es auf der einen Seite mit Bildung, Pädagogik und Gesprächen versuchen. Und im zweiten Schritt dann aber auch wirklich die entsprechenden Angebote ausbauen.Dass man auch eingreift, wenn es zu heftig wird oder wenn die Leute sich oder andere gefährden.

Hört sich nach einer schwierigen Aufgabe an.

Jeden Tag in den Hass gucken...ist nicht einfach. Aber ich habe ein tolles Team, und als Wissenschaftler versucht man ja auch immer trotz allem, sich da innerlich nicht zu tief reinfallen zu lassen. Aber ja, es ist natürlich übel, und ich rechne auch mit Gewalt. Wir haben ja schon in Halle und Hanau erlebt, wozu es führen kann. Aber im Vergleich zu früher wird diesmal die Demokratie nicht untergehen. Es sind sehr viele, die da demonstrieren, aber es ist nicht die Mehrheit.