Harvey Weinsteins Hollywood ist überall
Nun ist es raus: Harvey Weinstein, bekannter Hollywood-Produzent und Titan der Filmindustrie, wird beschuldigt, über Jahrzehnte hinweg systematisch unzählige Frauen erpresst, belästigt und ihnen sexuelle Gewalt angetan zu haben.
Nach außen gab sich Weinstein einen progressiven Anstrich, während er nach innen ein komplettes System aufgebaut hatte, das ihn und seine Taten schützte. Aktuell kommen täglich neue Stimmen betroffener Schauspielerinnen hinzu. Von einem "offenen Geheimnis" Hollywoods ist die Rede. Wer sich gegen Weinstein wehren wollte, bekam seine ganze, existenzbedrohende Macht zu spüren.
Lediglich die Spitze des Eisberges
Die angestoßene Debatte zeigt, dass bisher lediglich die Spitze des Eisbergs freigelegt wurde. Nicht nur, weil andere Männer wie Ben Affleck, Matt Damon oder Quentin Tarantino Weinstein offensichtlich deckten. Sondern auch, weil Andeutungen auf weitere Täter innerhalb der Film- und Fernsehindustrie bekannt werden. So melden sich auch immer mehr männliche Betroffene zu Wort, darunter die Schauspieler James van der Beek, Terry Crews oder Rob Schneider.
Dass allein Weinstein so lange unbehelligt bleiben konnte, ist aber keineswegs ein Hollywood-spezifisches Problem. An seinem Fall wird nur deutlich, wie Sexismus funktioniert und Taten sexualisierter Gewalt nicht nur hervorbringt, sondern diese auch stützt. Abhängigkeitsverhältnisse werden ausgenutzt, um die eigene Machtposition mittels erzwungener sexueller Handlungen zu festigen. Im Kern geht es um Machtmissbrauch, nicht um Flirts oder gar einvernehmlichen Sex - denn letztere passieren nur auf Augenhöhe.
Ob Hollywood, Hamburg oder Hongkong: Sexismus und sexualisierte Gewalt sind eine weltweite Epidemie. Keine Gesellschaftsschicht ist davor geschützt - nicht einmal die der "Reichen und Schönen".
Auch in Deutschland ist jede dritte Frau betroffen
Allein in Deutschland ist jede dritte Frau von sexualisierter und/oder körperlicher Gewalt betroffen. Sexuelle Belästigung als eine bestimmte Form sexualisierter Gewalt haben wiederum 58,2 Prozent erfahren müssen. Es passiert in der Öffentlichkeit, am Arbeits- oder Ausbildungsplatz und im persönlichen Umfeld: Es gibt also keinen Ort, an dem sexuelle Belästigungen nicht vorkommen. Besonders stark trifft es dabei junge Frauen, Frauen mit Behinderung, Frauen of Color und Transfrauen.
Dafür, dass dieses gesellschaftliche Problem so weitreichend ist und so starke Einschnitte in die Freiheiten von Mädchen und Frauen bedeutet, ist es allerdings immer noch erschreckend unsichtbar. Harvey Weinstein ist jedenfalls kein überraschender Einzeltäter, sondern der x-te Beleg für "Das haben Frauen euch schon ganz lange gesagt."
Die Sexismus-Debatte ist für Feministinnen wie der Film "Und täglich grüßt das Murmeltier": Jedes Mal wachen wir darin auf, nur um aufs Neue feststellen zu müssen, dass sich das Allgemeinwissen rund um Sexismus und dessen Konsequenzen kaum verändert hat: "Sexismus? Gibt es den überhaupt noch?" Das ist selbstredend frustrierend und von der Witzigkeit des Bill-Murray-Films weit entfernt - zumal selbst Bill Murray dafür bekannt ist, seine Ex-Frau geschlagen zu haben.
Sexismus ist wie Luftverschmutzung - alle werden beeinflusst
Alltagssexismus heißt nicht, dass jeder Mann sexuell übergriffig ist, sondern dass unser aller Alltag von sexistischem Denken und Handeln geprägt ist - also auch das von Frauen und schon Kindern. Sexismus ist wie Luftverschmutzung: Einige Orte und Menschen sind davon vielleicht stärker betroffen, beeinflusst sind wir am Ende aber alle davon. Sexualisierte Gewalt wird aus einer sexistischen Gesellschaft geboren, die insbesondere Frauen nicht glaubt, den Betroffenen eine Mitschuld an sexualisierter Gewalt gibt und Männlichkeit über die Erniedrigung von Mädchen und Frauen definiert.
Wenn wir sexualisierter Gewalt wirklich vorbeugen wollen, müssen wir diese Taten aber in unsere gesellschaftlichen Zusammenhänge einordnen und den Nährboden analysieren, auf dem Sexismus überhaupt so problemlos gedeihen kann. Geschlechterstereotype schaden schließlich uns allen - auch wenn sie dies auf unterschiedliche Weise tun. Dazu gehören auch von klein an aufgezwungene Geschlechterrollen, die ein Machtgefälle zementieren und bereits Mädchen einreden, dass "Jungs nun mal so sind" - statt Jungs vermitteln, dass sie so gar nicht sein müssen.
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Anne Wizorek ist selbstständige Beraterin für digitale Medien, Autorin und feministische Aktivistin. Sie lebt im Internet und in Berlin. Der von ihr initiierte Hashtag #aufschrei stieß im Jahr 2013 eine Debatte zu Alltagssexismus an und wurde dafür als erster Hashtag mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. In ihrem Buch "Weil ein #aufschrei nicht reicht – Für einen Feminismus von heute" (Fischer Verlag) entwirft sie eine moderne feministische Agenda. Als Mitglied der Sachverständigenkommission arbeitete Anne Wizorek am 2. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung mit.