Ein Stück gelebte Utopie
24. November 2010Eine Runde von zwei dutzend Menschen in einem Zeltlager, irgendwo im norddeutschen Flachland. In der Mitte zwei Männer, einer sitzt, der andere steht: "Sie sitzen also da, und zwei Polizeibeamte fordern Sie auf: Bitte kommen Sie jetzt mit! Was antworten Sie dann?" "Nein, ich bleibe sitzen." Korrekt. Dann wird der Sitzende von zwei Mitarbeitern der Initiative X-tausendmalquer weggetragen, im so genannten "Blockadesitz".
Protestieren will gelernt sein
"X-tausendmal quer" ist eine Vereinigung von Atomkraftgegnern, die den gewaltfreien Widerstand gegen die Atommüll-Transporte vorbereitet und organisiert – unter anderem, in dem sie in so genannten "Aktionscamps" Teilnehmer auf Sitzblockaden vorbereitet. Dort lernt man nicht nur, wie man sich richtig wegtragen lässt, sondern auch wie man sich richtig hinsetzt, nämlich nicht zu eng. 45 Stunden dauerte die Sitzblockade Anfang November auf der Zufahrtstraße zum Atommüll-Zwischenlager Gorleben, da möchte man auch mal seine Sitzposition ändern oder sich hinlegen können.
Sitzblockade im feinen Zwirn
Rund 4000 Menschen sind dem Aufruf von "X-tausendmal quer", gegen den Atommüll-Transport zu demonstrieren, gefolgt. Das waren nicht nur mehr als in den letzten Jahren, sondern es kamen auch andere Menschen, sagt Luise Neumann-Cosel, die sich bei "X-tausendmal quer" engagiert. "Manche haben sich demonstrativ im Anzug auf die Straße gesetzt. Dann waren sehr viele junge Leute dabei, die noch nie so eine Aktion mitgemacht haben, und sogar Leute aus dem konservativen Milieu, die gesagt haben: Also, ich wähle zwar CDU, aber das mit der Atompolitik geht mir jetzt doch zu weit."
Der Widerstand kommt inzwischen also auch aus der bürgerlichen Mitte. Luise Neumann-Cosel glaubt, dass dem eine tiefe Enttäuschung über das Demokratieverständnis vieler Politiker zugrunde liegt. Es habe etwas sehr "Entmündigendes und Abwertendes, dass die Regierung ihre Politik im Hinterzimmer mit den Stromkonzernen ausdealt". Offenbar reiche es vielen Menschen nicht mehr, nur wählen zu gehen, vor allem wenn sie feststellten, dass sie mit der Politik der von ihnen gewählten Volksvertreter nicht einverstanden sind. Der Ausstieg aus der Atomenergie beispielsweise war in Deutschland bereits beschlossene Sache. Dass dies von der aktuellen Regierung wieder zurückgenommen wurde, hat viele Menschen auf die Straße getrieben.
Protest als Gemeinschaftserlebnis
Dabei macht es einen entscheidenden Unterschied, ob man zu einer Demonstration geht, oder mit seinem eigenen Körper an einer Blockade teilnimmt. Es ist ein bewusster Schritt, mit der Polizei auf Konfrontation zu gehen und den Gehorsam zu verweigern, und damit ein stärkeres Zeichen des Protests zu setzen. "Gewaltfreiheit" bedeutet bei den Aktionen von "x-tausendmal quer" aber auch, dass die Teilnehmer sich selbst keine Gewalt antun. Die Veranstalter betonen, dass niemand gezwungen wird, den Widerstand durchzuziehen. Wer bei einer Aktion Angst bekommt, muss sich nicht schämen, wenn er seinen Posten in der Blockade verlässt.
Viele Demonstranten schätzen die Proteste in Gorleben, weil sie in ihnen das Gefühl stärken, nicht alleine mit ihrer Wut und Empörung dazustehen. Es ist ein besonderes Erlebnis, sich in einer Gruppe großenteils fremder Menschen als dazugehörig zu erleben und dann auch noch friedlich, im Dienste einer guten Sache, der Polizei gegenüber zu treten. "Ich habe von vielen Leuten gehört, die unglaublich beeindruckt davon waren", berichtet auch Luise Neumann-Cosel. "So eine Blockade ist auch immer ein Stück gelebte Utopie."
Autor: Dirk Schneider
Redaktion: Klaus Gehrke