"Ein moralischer Sieg"
2. Mai 2015"Baltimore, Our Baltimore": Als die Menschen einen Tag nach den nächtlichen Ausschreitungen bei einem Solidaritätskonzert des Baltimore Symphony Orchestra die Hymne ihrer Stadt anstimmten, klang das irgendwie trotzig und unwirklich.
Baltimore feiert
Drei Tage später ist die Welt in Baltimore scheinbar genauso fröhlich und wohlgestimmt, wie sie in der Hymne besungen wird. Die Autofahrer veranstalten Hupkonzerte, die Menschen tanzen und singen auf der Straße. Die Polizeihubschrauber, die über ihnen kreisen, wirken plötzlich nicht mehr bedrohlich.
"Das ist ein moralischer Sieg", sagt Edward Watson, nachdem Staatsanwältin Marilyn Mosby bekanntgegeben hatte, dass sie die sechs Polizisten anklagt, die sie für den Tod von Freddie Gray verantwortlich hält. Der Taxifahrer sagt, es sei das erste Mal in der Stadt, dass die Strafverfolgungsbehörden Polizisten für den Mord an einem Schwarzen anklagen. Er selbst hat vor Jahren mit eigenen Augen gesehen, dass Polizeibeamte einen jungen Schwarzen in einer Fußgängerzone niederschossen . Viele Zeugen seien damals dabei gewesen. Doch damals wurde kein Verfahren eröffnet.
Diesmal war er nicht wirklich überrascht von der Anklageerhebung. Wahrscheinlich sei das die beste Sache seit langem für Baltimore. "Die Stadt ist jetzt in einer ganz anderen Stimmung", stellt er zufrieden fest.
Selfie mit Nationalgardisten
Und wirklich, wie verwandelt wirkt die Stadt. Man blickt in fröhliche, lächelnde Gesichter. In Problemvierteln wie West-Baltimore drängt es alle aus den schmalen, dunklen Häusern hinaus auf die Straße. Und die von Gouverneur Larry Hogan nach Baltimore beorderten Nationalgardisten sind plötzlich keine ungeliebten Fremdkörper mehr.
Sie gehörten dazu, sagt eine junge Afro-Amerikanerin, die sich für ein Selfie neben eine junge Nationalgardistin stellt. "Mit ihnen fühle ich mich jetzt sicherer", sagt sie zur Begründung.
Die Frau der Stunde
Für die meisten Menschen hier ist die junge Staatsanwältin Marilyn Mosby die Frau der Stunde. Mossieka Holness (Artibelbild ganz oben) feiert sie wie eine Heldin. "Baltimore liebt Marilyn Mosby", steht auf dem Plakat, das sie hochhält. Ihr allein habe man zu verdanken, sagt sie, dass es nun endlich etwas gerechter zugeht. Sie sei eine mutige Frau und solle die nächste Bürgermeisterin von Baltimore werden.
Unter die Menschen hat sich auch Nick Mosby gemischt, der Ehemann der Staatsanwältin. Im taubenblauen Anzug gibt er sich ganz staatsmännisch. Er sei stolz auf seine Frau, sagt er auf Nachfrage. Er kenne sie schließlich seit 18 Jahren, sie sei die Richtige für diesen Job. Ob sie als Generalstaatsanwältin von ihren Kollegen und Mitarbeitern aus der Justizverwaltung unterstützt werde, lässt er offen. Man spürt, es könnte auch ein einsamer Kampf für sie werden. Erst seit vier Monaten ist sie im Amt. Doch unter Druck werde sie erst richtig gut, sagt Nick Mosby.
Phase der Heilung
Für ihn ist dieser Tag "wichtig für unsere Zukunft". Er könne auch ein "Weckruf für Amerika sein". Mosby ist selber Politiker und Mitglied des Stadtrates von Baltimore. Das heute sei erst der Anfang. Viele seien so begeistert, weil es plötzlich möglich erscheine, dass man sich vor Gericht gegen Polizisten zu Wehr setze. Bis jetzt seien solche Verfahren immer im Sand verlaufen. Um das Misstrauen zwischen Polizei und der schwarzen Community abzubauen, brauche es viel Zeit. Zunächst müsse es eine "Phase der Heilung" geben. Für vertrauensbildend hält er außerdem Körperkameras, die jeder Polizist tragen sollte. Schon Präsident Barack Obama hatte sich dafür stark gemacht.
Anders als Nick Mosby fällt Harpreet Singh in der Menge auf. Der junge Sikh trägt einen Turban. Er ist davon überzeugt, dass mit der Anklage der Polizisten noch nicht viel gewonnen sei. Die Polizeibrutalität sei weit verbreitet, sagt er. Auch er hat das selbst schon erlebt. Doch erstmal genießt er die "Party", wie er es nennt.
Nicht weit von ihm feuert Dante Allen die umherstehenden Menschen mit Parolen an. Der junge Afro-Amerikaner hat in den vergangenen Tagen mitdemonstriert. Dass Anklage erhoben wird, bedeute noch lange nicht, dass es auch eine Verurteilung gebe, gibt er zu bedenken. Er selbst ist schon hart mit der Polizei aneinandergeraten. Wie viele hier misstraut er der Polizei weiterhin. Er kann nicht glauben, dass sich die Beamten ändern.
Tradition der Unterdrückung
Nicht weit entfernt teilen Freiwillige der "Baltimore Free Farm" warmes Essen aus. Unter ihnen ist auch Genevieve Williams, der damit seine Solidarität mit den Demonstranten ausdrücken will. "Wir leben in einem Polizeistaat", sagt der junge Mann, der aus Richmond nach Baltimore gekommen ist. In Amerika gebe es eine lange Tradition der Unterdrückung von Schwarzen. Was damals die Sklaverei war, seien heute die Gefängnisse.
An diesem Tag in Baltimore allerdings sehen die Nationalgardisten nicht wie Unterdrücker aus. In ihren Uniformen lehnen sie lässig an den gepanzerten Fahrzeugen. Es gehe sehr friedlich zu, sagt First Sergeant Eric Saxton und blickt auf die tanzenden Menschenmassen. Das Ganze sehe heute aus wie eine "black party". Alle hoffen, dass es so bleibt.