Anklage gegen Alt-Nazis könnte scheitern
8. Dezember 2013"Wir haben eigentlich mit 49 Verfahren begonnen, aber davon leben einige im Ausland und mindestens neun der Beschuldigten sind schon verstorben. Darunter sind übrigens nicht nur Männer, sondern auch sieben Frauen", sagt Kurt Schrimm von der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Die Beschuldigten sollen als Wachleute im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gearbeitet und damit den Massenmord an Millionen Menschen überhaupt erst ermöglicht haben.
Die zuständigen Staatsanwaltschaften müssen jetzt schnell handeln, wenn es noch zur Anklage gegen die mutmaßlichen 30 Täter aus Deutschland kommen soll. Denn sie sind mittlerweile zwischen 87 und 97 Jahren alt. "Ich bin überzeugt, dass die Kollegen bestrebt sind, die Verfahren möglichst schnell zu bearbeiten, aber es wird sich trotzdem über einige Monate hinziehen", erklärt Schrimm.
Simon-Wiesenthal-Zentrum hat 111 Hinweise auf Verdächtige
Das ist auch im Interesse von Efraim Zuroff. Er ist der Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem. Seine Organisation beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Aufarbeitung des Holocaust - auch mit der Frage, ob die Täter von damals zur Verantwortung gezogen werden: "Wir erwarten und hoffen, dass diese Fälle so schnell wie möglich vor Gericht kommen und Gerechtigkeit gesprochen wird. Die Menschen müssen verurteilt werden, bevor sie sterben." Mit der Plakatkampagne unter dem Motto "Spät, aber nicht zu spät" in den Städten Berlin, Hamburg und Köln erhielt seine Organisation aus der Bevölkerung in den vergangenen Monaten Hinweise auf 111 Verdächtige, darunter wohl mindestens vier, bei denen es zu einer Anklage kommen könnte.
In zwei Fällen soll bereits nach Angaben verschiedener Medien die Zentrale Stelle in Ludwigsburg ermitteln. "Wenn wir Hinweise von Herrn Zuroff erhalten, dann gehen wir diesen selbstverständlich nach. Mir ist aber bisher nichts bekannt, ich habe schon mehrfach in der Presse gelesen, wir hätten zwei Verfahren erhalten, aber weder mein Stellvertreter noch ich wissen davon", sagt Schrimm. Das Simon-Wiesenthal Center setzt unterdessen seine Kampagne fort und hat weitere Plakate in München, Leipzig, Stuttgart, Magdeburg, Rostock, Dresden, Nürnberg und Frankfurt am Main geplant.
Wachleuten musste individuelle Schuld nachgewiesen werden
Die Ermittlungen der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen hingegen beruhen auf einer Liste mit 5000 Namen von Aufsehern und Aufseherinnen, die im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gearbeitet haben sollen. "Diese Liste existiert schon seit Jahrzehnten, und kein Mensch weiß genau, wer sie verfasst hat. Es spricht allerdings einiges dafür, dass sie in den Sechzigern von der Hessischen Justiz oder Polizei erstellt wurde." Allein bei 30 von ihnen könnte es nun nach intensiver Prüfung zur Anklage kommen.
Verfahren gegen Wachleute in Konzentrationslagern haben sich in der Vergangenheit in Deutschland als schwierig erwiesen: 1969 hatte der Bundesgerichtshof für den Fall Auschwitz festgelegt, dass für die Verurteilung der Wächter ihre individuelle Schuld nachgewiesen werden muss. Es reichte also nicht, dass ein Wächter selbstverständlich an der Mordmaschinerie des Holocaust mitgewirkt hatte. War die individuelle Mordbeteiligung schon in den 60er Jahren schwierig nachzuweisen, so wird es heute noch komplizierter. Oft gibt es kaum noch schriftliche Beweise - und die Zeitzeugen sterben. So sind knapp 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch viele mutmaßliche Täter straffrei geblieben.
Fall John Demjanjuk definiert Beihilfe zum Mord neu
2011 gab es dann in der Rechtsprechung einen Wendepunkt: Das Münchener Landgericht verurteilte den ehemaligen Aufseher im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk, wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen zu fünf Jahren Haft. Ihm musste seine individuelle Schuld nicht nachgewiesen werden, es reichte seine Tätigkeit als Wächter im Vernichtungslager Sobibor. "Dieser Fall hat die Rechtslage verändert und die Aufnahme neuer Verfahren erst möglich gemacht, ohne ihn wäre auch unsere Plakatkampagne gar nicht erst möglich gewesen", sagt Efraim Zuroff.
Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg hatte über acht Monate im Fall Demjanjuk ermittelt und in ukrainischen und russischen Archiven recherchiert. Das zeigt, dass Kurt Schrimm und seine Kollegen weit mehr als Ermittler und Juristen sind. Auf der Suche nach Beweisen forschen sie wie Historiker, wahrscheinlich wäre die Aufarbeitung von NS-Verbrechen anders gar nicht möglich.
Demjanjuk legte damals Rechtsmittel gegen das Urteil beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe ein, verstarb jedoch vor einer erneuten Verhandlung. "Wir wissen nicht, wie der Bundesgerichtshof entschieden hätte. Es kann sein, dass die bloße Anwesenheit eines Wächters in Auschwitz nach wie vor für eine Täterschaft nicht ausreicht, das würde bedeuten, dass unsere Ermittlungen umsonst waren", so Schrimm.
Hinzu kommt im Falle Auschwitz, dass der Lagerkomplex nicht ausschließlich ein Vernichtungs-, sondern auch ein Konzentrationslager umfasste, unterteilt in das "Stammlager" Auschwitz I und das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Während ein Großteil der Deportierten im Vernichtungslager unmittelbar nach ihrer Ankunft durch Giftgas ermordet wurden, hatten die Gefangenen im Konzentrationslager eine Überlebenschance, wenn auch eine sehr geringe. Während bei Demjanjuk fest stand, dass er in einem Vernichtungslager gearbeitet hatte, könnte dies bei den Aufsehern von Auschwitz schwierig zu beweisen sein.
Wie wird der Bundesgerichtshof entscheiden?
Es bleibt also offen, ob die 30 mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher überhaupt verurteilt werden können, wenn sie beim Bundesgerichtshof Revision einlegen. Weiter ist nicht geklärt, ob die deutsche Gerichtsbarkeit gilt. Diese Frage stellt sich immer dann, wenn der Täter kein deutscher Staatsbürger ist, unter den Opfern kein deutscher Staatsbürger war, und die Tat zudem im Ausland begangen wurde.
Demjanjuk, zum Beispiel, war weder deutscher Staatsbürger, noch haben die ihm vorgeworfenen Taten auf deutschem Boden stattgefunden. Aber ihm konnte nachgewiesen werden, dass unter seinen Opfern Deutsche waren. So konnte sein Fall vor einem deutschen Gericht verhandelt werden. Doch was passiert, wenn keine der drei Bedingungen zutrifft? Dann muss die Anklage im Ausland erfolgen. Und hier kommt wieder der Faktor Zeit ins Spiel: Werden die mutmaßlichen Täter im fortgeschrittenen Alter ihre Anklage im Ausland dann noch erleben? Vermutlich geht hier wieder viel kostbare Zeit ins Land.
Für Kurt Schrimm und sein Amt zur Aufklärung von NS-Verbrechen bleibt nach den Ermittlungen zu Wachleuten in Auschwitz auch weiterhin viel zu tun. "Wir haben bisher nur auf Auschwitz geschaut, weil es diese Liste gab. Die gibt es für andere Lager wie Treblinka oder Sobibor leider nicht. Das wird eine mühsame Arbeit, die aber zu bewältigen ist. Wir werden auch alle Akten, die bei uns im Hause lagern, die sich mit Vernichtungslagern befassen, noch einmal zur Hand nehmen und überprüfen."