Angst und Enttäuschung auf Lesbos
21. September 2016Die Insel Lesbos in der nördlichen Ägäis erlangte im letzten Jahr traurige Berühmtheit, als jeden Tag Tausende von Flüchtlingen von der Türkei aus dort ankamen. Ein Jahr später ist der Flüchtlingsstrom zwar nicht versiegt; es kommen aber nur noch einige hundert Flüchtlinge - pro Woche.
Dennoch ist die Insel noch immer überlaufen. Lesbos ist zum schwimmenden Flüchtlingslager geworden. Die Insel hat Platz für 3500 Flüchtlinge. Nach offiziellen Statistiken warten jedoch 5700 Menschen auf eine ungewisse Zukunft. Der Bürgermeister der Hafenstadt Mytilini, Spyros Galinos, hält dies für eine sehr vorsichtige Schätzung.
Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen sind nicht selten. Am vergangenen Sonntag artete ein Hungerstreik im Lager Moria in Gewalt aus. Die Folge war ein Brand, der 60 Prozent der Einrichtungen des Lagers zerstörte.
Niemand weiß, wer den Brand legte. Einige Flüchtlinge meinen, es war ein Unfall, andere geben Insassen aus Afghanistan die Schuld, wieder andere deuten an, dass Rechtsextremisten das Feuer in einem Olivenhain hinter dem Lager gelegt haben könnten. Alle sind sich jedoch einig, dass die Unruhen ausbrachen, als einige Flüchtlinge den Hungerstreik beenden wollten.
Sie hatten es kommen sehen
"Alle Insassen traten gestern in den Hungerstreik, weil Asylanträge ausnahmslos abgelehnt würden. Ich weiß nicht, wer den Brand gelegt hat, aber viele sagen, es seien Afghanen gewesen", sagte Sohail, ein 44 Jahre alter Arzt aus Pakistan, der DW.
"Ich bin hundertprozentig sicher, dass Afghanen das Feuer gelegt haben, ich habe es mit eigenen Augen gesehen," sagte ein 28 Jahre alter Flüchtling aus Eritrea, der ungenannt bleiben will.
Andere Flüchtlinge berichteten, die griechische Polizei habe mit Tränengasgranaten geschossen, aber nicht eingegriffen, als das Feuer ausbrach.
"Ich habe aus der Ferne zugesehen, wurde aber von einem Stein am Kopf getroffen", sagt Rashid, ein 18-Jähriger aus Ghana. "Ich weiß nicht, ob wir nach dem Brand neue Zelte bekommen. Möglicherweise muss ich unter den Büschen schlafen."
"Wie in einem Kriegsgebiet"
Anfänglich durften Journalisten das Lager nicht betreten. Anwälte, die einige der Flüchtlinge vertreten, erhielten jedoch Zugang. Ariel Ricker, Gründerin von Advocates Abroad, einer Organisation, die Flüchtlingen unbezahlten Rechtsschutz bietet, berichtet: "Im Lager sah es aus wie in einem Kriegsgebiet; es brannte an mehreren Stellen. Viele Flüchtlinge waren ernsthaft verletzt. Weil sonst niemand da war, leistete ich Erste Hilfe. Ein Mann hatte eine klaffende Kopfwunde, die mit einer Bandage zusammengehalten wurde; als ich sie abnahm, strömte das Blut über sein Gesicht."
Vom Regen in die Traufe
Die Zukunft der auf Lesbos Gestrandeten ist unklar. Derzeit haben nur Flüchtlinge aus Syrien, die zwischen März 2015 und März 2106 ankamen, überhaupt ein Recht darauf, weiter zu reisen oder mit ihren Familien zusammengebracht zu werden. Und auch sie können in die Türkei zurückgeschickt werden, wenn dies als sicher angesehen wird. Alternativen sind der Asylantrag in Griechenland, die freiwillige Rückkehr in die Heimat oder die Abschiebung. Die Aussichten sind also alles andere als ermutigend.
"Ich werde versuchen, illegal nach Athen zu kommen - es ist meine einzige Chance. Es ist gefährlich, es gibt Gerüchte, dass acht Flüchtlinge auf einer Fähre erstickt sind, aber andere haben es auch geschafft", sagte ein 18-Jähriger aus Ghana der DW.
Was er nicht weiß: Selbst wenn er Athen erreicht, wird er die Grenzen Richtung Europa nicht überschreiten können und - wenn er verhaftet wird - in einem Lager auf dem Festland festgehalten.
Die EU hatte das Abkommen mit der Türkei abgeschlossen, um den Strom der Flüchtlinge aufzuhalten. Jetzt sind die Behörden auf Lesbos zunehmend besorgt, weil die Spannungen nicht nachlassen und Rechtsextreme die Flüchtlinge ins Visier nehmen.
Für Bürgermeister Spyros Galinos ist die Sache ganz einfach. "Die Stimmung auf Lesbos macht die Insel verwundbar für alle Arten von Provokationen. Das Feuer in Moria kann jeder gelegt haben. Die Flüchtlinge, die hier festsitzen, müssen einfach gleichmäßig in Griechenland und im Rest Europas verteilt werden", sagt er.