Ein harmonischer Ausklang
27. Oktober 2021Am 5. Oktober 2009 feierte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin sein 60. Jubiläum. Zu diesem Anlass trug die griechische Sängerin Maria Farantouri aus dem Canto General von Pablo Neruda in der Vertonung des griechischen Musikers Mikis Theodorakis vor. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in der ersten Reihe saß, habe die ganze Zeit über im Beiheft die deutsche Übersetzung der Lieder gelesen, erzählte die Künstlerin geradezu aufgekratzt danach in der Garderobe.
Nicht nur bei dieser Gelegenheit verschaffte sich Merkel ein eigenes Bild von Griechenland. Zumindest während der Hochzeit der Schuldenkrise las sie tagtäglich die Presseschau, die die deutsche Botschaft in Athen nach Berlin schickte. Sie war bestens informiert über die Stimmung im Land. Sie wusste, dass sie zu einer Hassfigur geworden war, dass man sie auf Plakaten mit Naziuniform und Hakenkreuzbinde zeigte. "Ich wurde als die böse Frau dargestellt, das war schwer", sagte Merkel auf einer Diskussionsveranstaltung im September 2021 in Düsseldorf.
Bei dieser Gelegenheit erklärte sie, die schwerste Zeit ihrer Kanzlerschaft sei die gewesen, in der sie den Bürgern in Griechenland so viel zugemutet habe. Wohlgemerkt, sie nannte nicht die Flüchtlingskrise und auch nicht die Corona-Pandemie. "In der Situation gab es Arbeitslosigkeit, oder Menschen hatten weniger Geld, weil die Steuern erhöht wurden", erinnerte sich Merkel im September 2021.
Warum aber hat Merkel bei so viel Empathie für die leidgeprüften Griechen Kürzungen, Sonderabgaben- und Steuererhöhungen stets gutgeheißen? Eine mögliche Erklärung: Mantraartig hat die Kanzlerin in jenen Jahren betont, dass etwaige Erleichterungen der Kreditauflagen nicht nur Griechenland betreffen würden. Man müsse stets beachten, was diese Maßnahme für Auswirkungen auf Irland, Portugal, Spanien und Zypern hätten, die damals ebenfalls in Kreditprogrammen steckten. Während diese Länder relativ schnell in die fiskalische Normalität zurückkehrten, stand Griechenland fast das gesamte vergangene Jahrzehnt im Zentrum der Aufmerksamkeit der EU. Zur Schuldenkrise kamen Flüchtlingsströme und Spannungen mit der Türkei. Jedes Mal hatte die Bundeskanzlerin einen aktiven Part übernehmen müssen.
Am Anfang standen Rüstungsfragen
Als Angela Merkel im Sommer 2007, zwei Jahre nach ihrem Amtsantritt, zum ersten Mal Griechenland besuchte, stand eine ganz andere Frage auf der Tagesordnung. Aufgrund von Mängeln weigerte sich die griechische Marine, Zahlungen für ein bei den Howaldtswerke-Deutsche Werft (HDW) bestelltes U-Boot zu leisten. Außerdem zögerte Athen den Abschluss eines Vertrages über 60 Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter hinaus. Der damalige konservative Ministerpräsident Kostas Karamanlis versprach eine Entscheidung für 2009. Aber da war er nicht mehr im Amt und die griechische Schuldenkrise zeichnete sich bereits ab. Sein Nachfolger, der Sozialdemokrat Giorgos Papandreou, musste erklären, dass die Verschuldung des Landes sich nicht auf sechs Prozent des griechischen Bruttoinlandsprodukts belief, sondern auf 15,1 Prozent. Griechenland konnte kein Geld mehr auf den Kreditmärkten aufnehmen. Deshalb wurde ein Kreditpaket von IWF, EU und EZB geschnürt, weitere zwei sollten folgen.
Gegen die harten Auflagen dieser Troika hat sich jede griechische Regierung gewehrt. Es heißt, Papandreou habe 2010 erst eingewilligt, nachdem Merkel und der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy mit dem Rauswurf aus der Eurozone gedroht hatten. Den Austritt Griechenlands aus dem Euroraum schloss die Kanzlerin auch in den folgenden Jahren nie aus. Genau diesen Vorschlag soll sie dem neugewählten konservativen Ministerpräsidenten Antonis Samaras, während seines Antrittsbesuchs im September 2012 in Berlin unterbreitet haben. Samaras lehnte ab.
Während aber Merkels Finanzminister Wolfgang Schäuble zielstrebig darauf hinarbeitete, war der "Grexit" für sie lediglich eine Option. Deshalb war es 2015 für den damaligen französischen Präsidenten Francois Hollande nicht allzu schwer, sie davon abzubringen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte sie kürzlich, dass es aus ihrer Sicht "ein Handlungsimperativ (ist), dass alles getan werden muss, einen Weg zu finden, um Europa zusammenzuhalten."
"Freundschaftliches Verhältnis"
Nach dem turbulenten ersten Halbjahr der Syriza-Regierung einigte sich die EU mit dem neuen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras im Juli 2015 auf ein drittes Kreditpaket, dass erneut mit harten Sparauflagen verbunden war. In den folgenden Jahren rangen Brüssel und Athen hart um jede einzelne Maßnahme. Aber anders als seine Vorgänger setzte Tsipras die Beschlüsse um. "Tsipras liefert", hieß es in Berlin. Merkel schätzte diese Anpassungsleistungen und sprach öffentlich von einem "freundschaftlichen Verhältnis" mit Tsipras.
In seinem Buch "Machtverfall" bezeichnet der Welt-Journalist Robin Alexander das Bemühen der Bundeskanzlerin um Tsipras als ein "typisches Merkel-Manöver": "So hat sie viele Kritiker neutralisiert." Noch im April 2012 hatte Tsipras anlässlich ihres zweiten Griechenland-Besuchs der Kanzlerin vorgeworfen, sie sei gekommen, "um das korrupte, schändliche und unterwürfige politische System zu schützen". Im Januar 2019 war es eben jener Ministerpräsident Tsipras, der der Kanzlerin in Athen einen großen Bahnhof bereitete und bekannte, dass er eine sehr positive Meinung von ihr habe. Auch Merkels Rolle in der Flüchtlingskrise würdigte Tsipras besonders.
Von Seiten Merkels wiederum war der Besuch auch eine Anerkennung für die Lösung des jahrzehntelangen Namensstreits mit der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, dem heutigen Nordmazedonien. Tsipras erzählte später, dass Merkel ihm nicht geglaubt habe, als er ihr sagte, er werde das Problem lösen.
Im Verlauf dieses Besuchs traf die Bundeskanzlerin auch den damaligen konservativen Oppositionsführer Mitsotakis. Sie konnte ihn nicht davon überzeugen, die endlich gefundene Lösung mit Nordmazedonien zu unterstützen. Allerdings standen ihre Beziehungen schon seit Jahren nicht zum Besten. Merkel hielt gar nichts von Mitsotakis' Frontalopposition, die so weit ging, dass er im Parlament gegen fast alle Maßnahmen stimmte, die mit den Kreditauflagen verbunden waren. Das hielt die Kanzlerin aber nicht davon ab, sich mit Mitsotakis zu arrangieren, nachdem er die Wahl im Sommer 2019 gewonnen hatte.
Im vergangenen Jahr war es erneut Angela Merkel, die zwischen Griechenland und der Türkei vermittelte, um eine militärische Auseinandersetzung in der Ägäis abzuwenden. Das griechisch-türkische Verhältnis wird eines der Themen sein, wenn die Kanzlerin am 28. und 20. Oktober 2021 Athen besucht. Hinzu kommt die Flüchtlingsfrage, aber auch der Konflikt auf Zypern. Neben dem Ministerpräsidenten Mitsotakis und der Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou wird sich die Kanzlerin im Goethe-Institut mit jungen Griechen treffen. Schon 2019 stellte sie sich den Fragen der Schülerinnen und Schüler der Deutschen Schule Athen.