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Andreas Rettig: "Nicht daran gewöhnen"

19. Mai 2020

Der Re-Start der Fußball-Bundesliga mit den Geisterspielen ist in der Gesellschaft umstritten. Ex-DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig hofft, dass die Liga Lehren aus der Situation ziehen kann, sagt er im DW-Interview.

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Fußball Sportdirektor FC St. Pauli | Andreas Rettig
Bild: picture-alliance/dpa/C. Charisius

DW: Herr Rettig, wie haben Sie den Re-Start, den ersten vollständigen Geisterspieltag der Bundesliga, erlebt?  

Andreas Rettig: Bei mir schlagen zwei Herzen in einer Brust. Zum einen ergibt das Wochenende als Fußballfan jetzt wieder einen Sinn. Zum anderen muss man bei aller Freude über die Bundesliga-Spiele natürlich die Gesamtsituation bedenken, die aufs Gemüt drückt. Am vergangenen Samstag gab es die ungewöhnliche Situation, dass ich die Bundesligakonferenz nur so nebenbei verfolgt habe. Das hat es vor der Corona-Pandemie nicht gegeben. 

Was war der Grund dafür?  

Früher habe ich die Atmosphäre aufgesogen und ich habe mich gedanklich mitten in den Spielen wiedergefunden. Das war dieses Mal nicht so, was viel mit den äußeren Begleitumständen zu tun hatte. Wenn ein Tor erzielt wurde, fehlten die üblichen Emotionen. Auch die Emotionalität aller am Spiel Beteiligten war nicht vergleichbar. Das war schon ein deutlicher Unterschied zu früheren Zeiten.

Fußball ohne Fans hat also keine Zukunft?  

Die Situation ist zumindest der Not geschuldet. Das war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich von Seiten der Liga verständigt hat. Aber das ist nichts, woran man sich gewöhnen sollte.  

Befürchten Sie, sollte dieser Zustand der Geisterspiele noch lange andauern, dass sich viele Fans von der Bundesliga nach und nach abwenden werden?  

Ich glaube, dass sich der Fußballfan, der am Vereinsleben teilnimmt und seine Mannschaft regelmäßig intensiv unterstützt, nicht abwenden wird. Aber diejenigen, die zwar sportaffin aber keine klassischen Fußballfans sind und ein breiteres Interesse haben, werden irgendwann sagen: Das muss ich mir nicht mehr antun und machen dann vielleicht lieber Gartenarbeit. Ich habe auch Sympathien dafür, dass derzeit einige organisierte Fans sagen, dass sie sich samstags lieber für soziale Dienste einsetzen, weil sie ihre Mannschaft nicht aktiv unterstützen können. 

Welche Lehren ziehen Sie im Bezug auf den Fußball aus der Corona-Krise?  

Aus meiner Sicht ist es offensichtlich, dass die Vereine, die in den vergangenen Jahren wirtschaftliche Vernunft haben walten lassen, besser durch diese Krise kommen als die "Saisonarbeiter", die sich mit ihren Etats nur von einer Spielzeit zur nächsten hangeln. Dafür hege ich Sympathie, weil es keinen Ersatz für wirtschaftliche Vernunft gibt. Das wird in diesen Tagen besonders deutlich.  

Welche dringenden Veränderungen würden Sie für den Profifußball fordern?  

DFL Andreas Rettig neuer Geschäftsführer
Von 2013 bis 2015 war Rettig Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga (DFL)Bild: picture-alliance/dpa

Alle Vereine - auch europäisch betrachtet - stehen im direkten Wettbewerb zueinander. Deshalb müsste es ein klares Bekenntnis des gesamten europäischen Fußballs zur sozialen Verantwortung geben. Und daraus leiten sich Investitionen ab. Wir müssen den freiwilligen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung finanziell unterstützen. Wir müssen nicht die Quadratzentimeter-Zahl auf dem Trikot für den Hauptsponsor vorgeben und die Beleuchtungsstärke für die Flutlichter. Wir müssen aber etwa Vorgaben machen für die Installation von Solaranlagen an Stadien, für Trikotproduktionen unter Fair-Trade-Bedingungen und viele andere Dinge. Wenn man genau so etwas in die Präambel schreibt und die Vereine dazu zwingt, darin zu investieren, bleibt weniger Geld etwa für goldene Steaks. 

DFL-Präsidiumsmitglied Oke Göttlich fordert - unabhängig von EU-rechtlichen Bedenken - einfach mal die Verbandsautonomie zu nutzen und in solchen Fragen voranzugehen. Ist das möglich?  

Ich fände es schon gut, mal voranzugehen. Auf was wollen wir eigentlich warten? Wer es schafft, innerhalb weniger Wochen solch einHygienekonzept für die Liga zu entwerfen, dem sollte es mit ähnlichem Engagement glücken, strukturelle Voraussetzungen zu schaffen und dem Profifußball mehr Nachhaltigkeit zu verordnen. Man sollte sich nicht immer hinter der vermeintlichen internationalen Wettbewerbsfähigkeit verstecken. Das ist für mich eine Grundsatzfrage. Ist der Profifußball Teil der Gesellschaft mit seiner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung? Oder begreifen wir alles unter der Maxime, mal den Henkelpott nach Deutschland zu holen? Diese Frage gilt es zu klären.  

Welche Entwicklungen haben in den vergangenen Jahren zu diesen finanziellen Verwerfungen im Fußball geführt?  

Die finanziellen Einsätze wurden immer größer, weil die falschen Anreize geschaffen wurden. In dem Moment, in dem die Champions-League-Teilnahme bereits einen zweistelligen Millionenbetrag in die Kasse spült, ohne das man ein Spiel absolviert hat, ist man eher bereit auf dem nationalen Markt wirtschaftlich unvernünftige Dinge zu tun. Es stellt sich die Frage: Treiben wir damit und mit immer neuen internationalen Wettbewerben die Vereinsvertreter in eine Hazadeur-Mentalität? Nur noch international wird richtig Geld verdient. Das ist auch ein Angriff auf die nationale Solidargemeinschaft.   

Wird es die Bundesliga nach dieser Krise in ihrer jetzigen Form noch geben?  

Es versteht ja niemand, dass DAX-Unternehmen nicht-wirtschaftliche Berichte abgeben und ihr gesellschaftliches Engagement beschreiben müssen und in den DFL-Statuten dazu noch immer wenig zu finden ist. Der Druck von vielen Seiten, von Fans, Sponsoren und Unternehmen, wird immer größer werden. Da bin ich mir sehr sicher ind bei vielen Vereinen ist das mittlerweile angekommen. Wenn es uns gelingt, hin zu einer glaubwürdigen Nachhaltigkeitsstrategie und weg von einer Umsatzmaximierung zu kommen, dann wird das auf eine perspektivisch gute Zukunft einzahlen. Wir müssen die Gelegenheit nur nutzen.   

Andreas Rettig wurde in Leverkusen geboren und machte nach seiner Spielerkarriere im Amateurfußball zunächst eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Danach arbeitete der heute 57-Jährige in unterschiedlichen Positionen bei Bayer Leverkusen. Von 1998 bis 2002 war er Manager des Bundesligisten SC Freiburg, ehe er die gleiche Position  beim 1.FC Köln bis 2005 bekleidete. Danach ging es zum FC Augsburg, wo er von 2006 bis 2012 tätig war. Ab dem 1. Januar 2013 war Rettig als Nachfolger von Holger Hieronymus neuer DFL-Geschäftsführer. Anfang 2015 bat Rettig den Aufsichtsrat der DFL um die Auflösung seines Vertrages. Seit dem 1. September 2015 war Rettig kaufmännischer Geschäftsleiter beim FC St. Pauli. Ende September 2019 schied Rettig aus persönlichen Gründen aus. 

Das Interview führte Jörg Strohschein