An Bord der "Ocean Viking"
17. Februar 2020Die Sonne steht steil über dem Mittelmeer, westlich von Sardinien, kein Lüftlein weht, kaum Wellengang. Die majestätische Ruhe wird nur von gelegentlich aufheulendem Motorengeräusch unterbrochen. Kleine, orangene Rettungsboote üben den Ernstfall: in Not geratene Menschen aus dem Wasser zu fischen, bei Bedarf sie wiederzubeleben und möglichst schnell auf das Mutterschiff zu bringen, auf die "Ocean Viking". Sie ist das Rettungsschiff von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen.
Übungen für den Ernstfall
Von der Brücke aus beobachtet Einsatzleiter Nicholas Romaniuk die Übung, an der rund 24 Helfer aus 14 Nationen teilnehmen. Der 35-Jährige mit britischer und kanadischer Staatsbürgerschaft gibt per Funk Anweisungen an die Drei-Mann-Mannschaften auf den Rettungsbooten. "Bringt die Banane auf das Meer," lautet sein Befehl an eines der Teams. Die "Banane" ist ein etwa 10 Meter langer, gelber Schlauch. An beiden Seiten sind Taue angebracht. Im Notfall können sich an daran Dutzende Menschen festhalten, die ins Wasser gefallen sind. Andere Rettungsboote werfen rote Schwimmwesten ins Wasser und sammeln sie dann wieder ein. Mit einem langen Stiel an dessen Ende sich ein Haken befindet ziehen sie sich an Bord.
Erneut meldet sich die Bass-Stimme von Nicholas Romaniuk über Funk: "Zehn Meter vor der Banane droht jemand zu ertrinken." Kaum ausgesprochen, gibt aus 200 Meter Entfernung eines der kleinen, wendigen Rettungsboote Vollgas: Zwei Motoren mit insgesamt 230 PS heulen auf. Wer sich an Bord nicht festhält, droht ins Wasser geschleudert zu werden.
Jede Sekunde zählt
"Wenn Menschen ertrinken kommt es auf jede Sekunde an," erklärt Dragos Nikolae, einer der erfahrensten Helfer an Bord. Die Aufgabe des 40-Jährigen besteht unter anderem darin, im Ernstfall Menschen, die im Wasser treiben, auf eines der kleinen Rettungsboote zu ziehen. Wie jeder andere an Bord, trägt auch Rumäne aus Costata einen Helm, eine schwarz-rote, wasserdichte Hose, eine Rettungsweste um den Hals, festes Schuhwerk. Im Ernstfall pendeln die Helfer viele Stunden, manchmal eine ganze Nacht hindurch zwischen dem Mutterschiff und den in Not geratenen Flüchtlingen hin und her, oft bei rauem Seegang. Die meisten, die sich in Holz- oder Schlauch-Booten auf dem Seeweg in Richtung Europa machen, stammen aus Afrika, einige aber auch aus dem Nahen Osten.
Das Schlimmste, woran sich Dragos Nikolae erinnern kann, geschah im Januar 2018: "Als wir ankamen, trieben viele Menschen bereits im Wasser," erinnert er sich und sein Gesicht wird traurig. Einige hatten ihr Bewusstsein verloren. "Um sie alle retten, hätten wir sie innerhalb von wenigen Minuten einsammeln und zum Mutterschiff bringen müssen." Das sei rein physisch nicht möglich gewesen. "Es sprangen wieder und wieder Menschen aus dem Flüchtlingsschiff ins Wasser," sagt er. Hohe Wellen und ein stürmischer Wind erschwerten die Rettungsaktion zusätzlich. "Wir zogen viele in unser Rettungsboot, brachten sie zum Mutterschiff, fuhren zurück und pendelten viele Stunden hin und her". Dennoch konnten sie am Ende nicht alle retten.
Jeder Handgriff muss sitzen
Weil es bei diesen Einsätzen um Leben und Tod geht, müssen alle Handgriffe sitzen. Auf dem Weg in die internationalen Gewässer vor Libyen üben die Rettungsteams der "Ocean Viking" immer wieder den Ernstfall. Auch auf dem Mutterschiff. Ärzteteams mit Mitgliedern aus den USA, Neuseeland oder dem Kongo zeigen den anderen Helfern, wie Menschen, die das Bewusstsein verloren haben, auf Tragen transportiert, wiederbelebt werden.
Bei den Rettungsaktionen auf dem Wasser hat das Team von SOS Méditerranée das Sagen; sobald die Überlebenden auf der "Ocean Viking" sind, übernimmt "Ärzte ohne Grenzen" die Betreuung der Überlebenden. Die Mitglieder beider Teams proben gemeinsam, was zu tun ist, wenn zum Beispiel auf der "Ocean Viking" ein Feuer ausbricht. Es gibt nicht nur Pläne für alle möglichen Notfälle: Was zu tun ist, wird durchgesprochen, geprobt.
In einigen Medien oder in den sozialen Netzwerken wird den Rettern gelegentlich vorgeworfen, durch ihren Einsatz Menschen geradezu zu ermuntern, sich auf die gefährliche Reise über das Meer zu machen. Die Vorwürfe stimmen Einsatzleiter Nicholas Romaniuk traurig. Er weist sie zurück. Die Fakten sprechen dagegen. Lange sei jetzt kein Rettungsschiff vor der Küste Libyens gewesen, sagte er. Dennoch hätten sich viele auf den gefährlichen Weg über das Wasser gemacht. "Wir versuchen nur Menschleben zu retten," sagt er. So wie er denken alle an Bord der "Ocean Viking", die voraussichtlich in wenigen Tagen vor der Küste Libyens sein wird.