Die Lage ist kritisch
21. Juli 2012Die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" macht in diesen Tagen wieder auf das Schicksal von Flüchtlingen aufmerksam, die von Nordafrika aus versuchen, mit Booten nach Europa zu gelangen. Viele kommen auf der winzigen Mittelmeerinsel Lampedusa an, die zu Italien gehört. Andere schaffen es bis nach Sizilien oder Malta. Die Zahl der Flüchtlinge hat in diesem Sommer abgenommen, trotzdem hat sich das grundsätzliche Problem nicht verändert, sagt der Europa-Direktor von "Amnesty International", Nicolas Beger.
DW: Herr Beger, Sie waren gerade auf Lampedusa. Wie ist die Situation dort?
Nicolas Beger: Momentan ist die Lage ruhig. Es kommen nach wie vor Flüchtlinge an, aber das ist für die Insel zu bewältigen. Letztes Jahr war die Lage sehr schwierig. Wir sind momentan mit 100 Aktivisten aus 20 Ländern auf Lampedusa, um darauf hinzuweisen, wie viele Menschen jedes Jahr sterben. Letztes Jahr waren es rund 1500 Menschen, die gestorben sind. Wir wollen mit den Aktionen aber auch darauf hinweisen, welche heroische Leistung die Menschen auf Lampedusa erbracht haben. Teilweise kamen ja 1000 Menschen in einer Nacht an. Das ist nur eine kleine Insel mit keiner eigenen Wasserquelle und 6000 Einwohnern. Sie haben sich sehr heroisch verhalten.
Woher kommen die Menschen, die jetzt auf Lampedusa anlanden? Stammen sie aus Ländern, die unmittelbar am Mittelmeer liegen, oder kommen sie aus weiter südlich gelegenen Staaten, wie Senegal, Mali oder Somalia?
In der Hauptsache kommen Menschen, die wirklich Flüchtlinge sind, aus den afrikanischen Regionen, zum Beispiel Eritrea oder Sudan - aus Ländern, in denen ein Leben kaum möglich ist. Die Situation in Libyen hat sich nicht verändert. Es gibt weiter das Gerücht, dass die Afrikaner als Söldner Ghaddafi geholfen hätten, was ja nicht stimmt. Die Menschen werden nach wie vor in Libyen verfolgt, eingesperrt und gefoltert. Die Flucht geht über die See. Die Menschen, die Schutz brauchen, sind momentan keine Nordafrikaner, sondern Menschen, die aus südlicheren Teilen Afrikas kommen und in einer sehr schweren Situation sind.
Wie beurteilen Sie mittlerweile das Verhalten der italienischen Behörden? Wie geht man in Italien mit diesen Flüchtlingen um?
Leider hat sich da sehr wenig verändert. Italien hatte ein Abkommen mit Libyen noch unter (Ex-Diktator) Ghaddafi. Die sogenannten "Push-backs": Wenn sie Leute auf See aufgegriffen haben, dann haben sie diese einfach an die Libyer zurückgegeben. Dies ist mittlerweile auch vom Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg als massive Verletzung der Menschenrechte verurteilt worden. Sie müssen sich vorstellen: Die gehen direkt zurück in die Folter. Zurück in Gefängnisse in Libyen. Das geht also nicht, aber Italien will damit wieder anfangen. Es gibt ein neues Abkommen, ein geheimes Abkommen, das durch die italienische Presse bekannt gemacht wurde. Gerade vor zwei Tagen war ein italienischer Minister in Libyen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Es hat sich also nichts verändert. Und es gibt sehr wenig Einsicht auf Seiten der italienischen Regierung.
Italien hat im letzten Jahr zusammen mit der europäischen Grenzschutz-Agentur "Frontex" versucht, Flüchtlinge in ihren Booten schon auf hoher See abzufangen. Wird das in diesem Sommer genauso praktiziert oder haben diese Aktivitäten nachgelassen?
Es gibt nach wie vor eine relativ hohe Todesrate auf See, die wir sehr bedauerlich finden. Gerade letzte Woche sind auf einem Schiff wieder 54 Menschen umgekommen. Es wird also viel zu wenig Seenot-Rettung betrieben und viel zu viel Wert darauf gelegt, Grenzkontrollen zu machen.
Die Flüchtlinge kommen nicht nur in Italien an, sondern auch auf Malta, auf Zypern und in Griechenland. Der Hauptweg für Flüchtlinge ist ja wohl nicht der Seeweg, sondern der Landweg über die Türkei und Griechenland. Haben Sie dort Informationen über die Situation der Flüchtlinge? Es gibt ja immer wieder dramatische Meldungen, dass sich Griechenland nicht ausreichend um die Flüchtlinge kümmert.
Griechenland hat immer noch Sub-Standard, also ganz minderwertige Prozeduren und Verhältnisse. Die Gewalt gegenüber Migranten und Flüchtlingen hat sehr zugenommen, auch die Polizeigewalt. Es gibt die Gewalt der rechten Gruppen, die Migranten in den Straßen jagen und versuchen sie zu töten. Die Situation in Griechenland hat sich aber in dem Sinne ein wenig gebessert, dass die Regierung versucht hat, Asylverfahren zu verändern. Da gibt es leichte Besserungen, aber es ist nach wie vor unter jedem europäischen Standard. An der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland lässt der Druck ein wenig nach. Früher waren es 1000 Flüchtlinge pro Woche, jetzt sind es einige Hundert. Wir sind natürlich stark besorgt, dass das bankrotte Griechenland 13 Millionen Euro findet, um einen Zaun an der Grenze zu bauen. Der wird dazu führen, dass die Menschen im Grenzfluss ertrinken werden.
Nun sind von der Flüchtlingsproblematik ausgerechnet die Länder am meisten betroffen, die auch unter der Schulden- und Eurokrise am stärksten leiden. Glauben Sie, dass sich die anderen europäischen Staaten hier stärker kümmern sollten und die Südeuropäer nicht alleine lassen sollten?
Selbstverständlich, aber es gibt immer zwei Seiten. Natürlich ist jeder EU-Staat dazu verpflichtet, Asylsysteme zu haben, die menschenwürdig sind. Diese Grundannahme muss einfach gegeben sein, aber das tun nicht alle. Auch in Zypern und Malta sind die Zustände wirklich sehr schlecht. Diese Staaten könnten deutlich mehr tun. Auf der anderen Seite ist auch verständlich, dass es für Malta schwer ist, Tausende von Flüchtlingen zu beherbergen. Das ist halt ein kleines Land. Da gehört natürlich die Solidarität der anderen Mitgliedsstaaten hin. Schauen Sie, Deutschland nimmt heute nur noch fünf Prozent der Menge an Flüchtlingen auf, die es noch in den 1990er Jahren bekommen hat, bevor die neuen Asylregeln in Kraft traten. Solidarität ist aber nicht nur innerhalb der EU wichtig. Es geht auch darum, dass Vierfünftel der weltweiten Flüchtlinge in die ärmsten Länder fliehen. Europa nimmt nicht einmal einen kleinen Bruchteil dessen auf, was ein fairer Anteil am weltweiten Flüchtlingsaufkommen wäre. Wir sind da einfach ganz weit unten.
Nicolas Beger leitet das Europa-Büro von "Amnesty International" in Brüssel. Die Menschenrechtsorganisation versucht, durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen u.a. Einfluss auf die Entscheidungen der EU zu nehmen. Weltweit protestiert "Amnesty International" gegen die Misshandlung und Folter von Gefangenen und Flüchtlingen. Die 1961 in London gegründete Organisation hat nach eigenen Angaben heute rund drei Millionen Unterstützer.