"Keine homogene Mehrheitsgesellschaft"
27. August 2016DW: Frau Amir-Moazami, der französische Staatsrat hat das in der Gemeinde Villeneuve-Louet erlassene Burkiniverbot als unvereinbar mit der geltenden Rechtslage bezeichnet. Wie bewerten Sie diese Einschätzung?
Schirin Amir-Moazami: Vielleich vorab ein Wort zu dem Verbot: Dabei handelt es sich um eine Art moralischer Panik. Letztlich zeigt die gesamte Verbotspolitik - sie betraf ja nicht nur den Burkini, sondern auch andere Phänomene, etwa den Niqab -, dass es in Frankreich eine zunehmende Restriktionspolitik im öffentlichen Raum gibt. Diese arbeitet sich überwiegend an islamischen Symbolen ab. Nach den Attentaten hat man die Verunsicherung erneut an einem Kleidungsstück festgemacht. Der Staat sendet symbolpolitische Signale aus, um mitzuteilen: Wir rüsten uns gegen die Gefahr.
Frankreich ist ein laizistischer Staat. Inwiefern spielt dieses Erbe in die Debatte um den Burkini hinein?
Die laizistische Tradition ist in Frankreich in der Tat sehr stark. Frankreich ist neben der Türkei das einzige Land in Europa, in dem die Trennung von Staat und Religion verfassungsrechtlich verankert ist. Im Rahmen dieser Tradition reguliert der Staat allerdings auch den öffentlichen Raum - und damit auch Lebens- und Verhaltensweisen sowie die religiöse Praxis. Das macht die Sache aber auch sehr komplex, denn es ist immer unklar, wo die Grenze zwischen dem politischen und dem religiösen Bereich zu ziehen ist.
Sie sprechen von Symbolpolitik. Für wie wichtig halten Sie denn die Bedeutung von Symbolen für den Zusammenhalt, die kulturelle Identität einer Gesellschaft?
In Frankreich existiert diese als homogen vorgestellte Mehrheitsgesellschaft schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Das hat sehr stark mit der Kolonialvergangenheit und später mit der Einwanderungspolitik des Landes zu tun. Was wir derzeit erleben, sind Rückwirkungen dieser kolonialen Vergangenheit. Darum ist es sehr schwierig, von spezifisch "französischen" Werten sprechen, vor allem wenn wir es an der Frage festmachen, wie viel vom Körper öffentlich sichtbar sein muss. Diese Werte standen immer schon in Zusammenhang mit Kontexten außerhalb Frankreichs. Insofern ist es bedauerlich, dass Frankreich sich mit dieser Vergangenheit nie kritisch auseinandergesetzt hat - etwa indem man nach deren Konsequenzen und Auswirkungen heute fragt. Fest steht aber, dass man von originär "französischen" Werten nicht mehr sprechen kann.
Dennoch wird diese Diskussion in Frankreich mit großer Vehemenz geführt. Der Philosoph und Bestsellerautor Alan Finkielkraut verweist auf die Klage vieler Franzosen, sie fühlten sich in Ihrem Land nicht mehr zu Hause.
Mir scheint eine solche Aussage problematisch. Denn was bedeutet es, "zuhause" zu sein angesichts einer Vergangenheit, in der Frankreich dieses "zuhause" ja auch in andere Teile der Welt getragen hat? Finkielkraut selbst hat ja einen jüdischen Hintergrund, mit dem er sich auch publizistisch auseinandergesetzt hat. Leider überträgt er diese Frage nicht auf die Gegenwart. Er fragt nicht, wie sie sich für die heutigen Minderheiten stellt, die als solche ja ebenfalls stigmatisiert und als Minderheiten reproduziert werden. Dies gilt umso mehr, als die maghrebinischen Muslime ja nicht gekommen sind, weil sie Frankreich islamisieren wollten. Vielmehr handelt es sich um einen Fall postkolonialer Einwanderung.
Sehen sie Möglichkeiten, die angespannte Situation doch noch in eine letztlich erfolgreiche Integrationsgeschichte münden zu lassen?
Gerade in Frankreich ist soviel falsch gelaufen, dass es wirklich schwierig ist, noch sinnvoll einzulenken. Denn die Polarisierung dieser Gesellschaft - und in Deutschland deutet sich derzeit Ähnliches an – ist schon so sehr fortgeschritten, dass die Befunde relativ ernüchternd sind. Die jüngste Entscheidung des Staatsrats zur Aufhebung des Burkini-Verbot weist in eine sinnvolle Richtung. Es ist richtig, das Thema nicht weiter hochkochen zu lassen und so die weitere Polarisierung der Gesellschaft zu betreiben. Auch war es klug, den Burkini nicht als Ausdruck einer islamistischen oder terroristischen Gefahr gelten zu lassen. Es wäre zudem falsch, diese Diskussion hauptsächlich auf dem Rücken der Frauen zu führen. Stattdessen sollte man mehr auf Fragen sozialer Gerechtigkeit schauen. Denn in Frankreich wie in Deutschland repräsentieren viele Muslime eine bestimmte soziale Klasse, in der sich über lange Jahre auch eine bestimmte Kultur herauskristallisiert hat, die dann marginalisiert wurde.
Würden Sie denn sagen, die derzeitige kulturell-religiöse Auseinandersetzung sei tatsächliche eine indirekt politisch-ökonomische, in der es vor allem um Verteilungskonflikte geht?
Zu Teilen. Das ist gewiss eine wichtige Komponente. Ich würde aber nicht das marxistische Klischee bemühen, es handele sich eigentlich um einen verdeckten Klassenkampf. So weit würde ich nicht gehen. Aber wenn wir einen Blick auf die banlieues werfen, die überwiegend von Eingewanderten und deren Nachfolgegenerationen bewohnten Vororte der großen Metropolen, dann wird offenbar, dass sich dort eine bestimmte Klasse herauskristallisiert hat. Die Formen der Religiosität sind also durchaus immer an soziale, politische und ökonomische Bedingungen geknüpft.
Dennoch hängen die derzeitigen Konflikte auch mit dem Umstand zusammen, dass es unterschiedliche Formen von Religiosität im öffentlichen Raum und zu der Frage gibt, wie religiöse Praxis im öffentlichen Raum gelebt werden soll. Am Beispiel der Burkini-Diskussion wird das sehr deutlich: Zur Frage, wie viel Haut im öffentlichen Raum gezeigt werden sollte, gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen. Es gibt eben Frauen, die sich nicht den Konventionen der Sichtbarkeit aussetzen möchten.
Schirin Amir Moazami ist Politologin und Soziologin. Am Institut für Islamwissenschaften der FU Berlin leitet sie den Profilbereich Islam in Europa.
Das Interview führte Kersten Knipp.