Identitätssuche
8. November 2008"Lauf, freies Kind, das ist deine einzige Chance! Verstecke die Freiheit der Welt!" - dieses Lied aus dem Film "Viimne Reliikvia" (Die letzte Reliquie) kennt in Estland jedes Kind. Die Geschichte um den mittelalterlichen Helden Gabriel kam 1969 zum ersten Mal in die Kinos.
Im feudalen Land kämpft der estnische Robin Hood für die Unabhängigkeit des einfachen Volkes von seinen Gutsherren. In Estland ist der Film Kult. "Immer, wenn ich diesen Film sehe, denke ich an unsere Geschichte – den deutschen Orden, die sowjetische Zeit, die Freiheitsbewegung", sagt eine ältere Frau. All das spiegele sich in dem Film wieder. Allerdings hätten die Freiheitslieder vor 20 Jahren noch anders geklungen.
Dass man die Lieder heute in einer restaurierten Fassung von "Viimne Relikvia" wieder in den Kinosälen hören kann, ist einem Projekt der estnischen Regierung und der Film Foundation in Tallinn zu verdanken. Seit vier Jahren werden hier die besten estnischen Filme restauriert, um sie zum 100. Geburtstag des estnischen Films dem Publikum zu zeigen.
Kostspielige und langwierige Restaurierung
Filmjournalistin Annika Koppel leitet das Projekt "Film 100". Es sei langsam Zeit, die alten Filme wiederzuentdecken, sagt sie. Viele Filme seien noch völlig unbekannt, viele seien zensiert oder zerstört worden. "Aber sie sind ein Teil unserer kulturellen Identität und unserer Filmgeschichte. Durch das Projekt können wir sie nun neu entdecken", erklärt sie.
Auch der Spielfilm "Madness" des estnischen Regisseurs Kalju Kiisk wird jetzt neu entdeckt. Darin begibt sich ein deutscher Offizier auf der Suche nach einem englischen Spion in eine Irrenanstalt. Der Film von 1968 sorgte für Aufregung: Wegen der modernen Sprache und Metaphorik wurde er aus dem Verleih genommen. Jetzt wird der Film "Madness" - wie viele andere Dokumentar- und Spielfilme - aus dem Archiv herausgeholt und in die Kinos gebracht.
Zuschauer sind begeistert
Aber der Weg dahin war alles andere als leicht. Die Kopien seien in einem schlechten Zustand, sagt Annika Koppel. Es sei kostspielig und dauere lange, sie zu restaurieren: "Es dauert meistens ein Jahr, eine 35-mm-Kopie zu restaurieren und kostet zwischen 35.000 und 64.000 Euro", erklärt sie. Viele Originale müssten außerdem im Moskauer Filmarchiv Gosfilmofond eingekauft werden, um sie mit den estnischen Kopien zu vergleichen. Alle Filme, die in den ehemaligen sowjetischen Republiken produziert wurden, werden nicht im eigenen Land, sondern in Moskau aufbewahrt.
Aber die Anstrengungen haben sich gelohnt. Denn auch beim zweiten Anlauf ist "Viimne Reliikvia" in Estland wieder ein Publikumshit – und diesmal nicht nur in den Kinos, sondern auch auf DVD. Ein estnischer Kino-Besucher sagt, er habe immer wieder Lust, diesen Film zu sehen: "Filme sind wie Wein: Sie werden mit der Zeit nur besser. Man entdeckt darin Symbole und Bedeutungen, die man früher, als man jünger war, gar nicht gesehen hat."