Alt-Nazis und verschlafene Krisen
17. Mai 2021Wie gut war die bundesdeutsche Spionage in Südosteuropa? Die neueste Studie der Unabhängigen Historikerkommission des Bundesnachrichtendienstes (BND) gibt darauf für die Zeit bis 1968 erstmals klare Antworten. Und die sind genauso spannend wie ernüchternd.
"Der BND interessierte sich vor allem für das militärische Potenzial der Ostblockstaaten", fasst Andreas Hilger, verantwortlicher Projektmitarbeiter der Kommission, zusammen. Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei waren als Aufmarschgebiete der sowjetischen Armee interessant. Um einen solchen Angriff frühzeitig erkennen zu können, galt den deutschen Spionen die militärische Lage in Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien als Frühwarnindikator.
Die Ziele des BND, der 1946 als "Organisation Gehlen" von den Amerikanern gegründet und 1956 von der Bundesregierung übernommen wurde, waren also nicht bescheiden. Seine Resultate, so das Gesamtergebnis, hingegen schon.
"Für den BND galt es als großer Erfolg, wenn er eine 'meldende Quelle' in einem der Zielländer hatte. Deren Zahl blieb sehr überschaubar, in den 1960er schwankte sie zwischen neun und 22 - für ganz Südosteuropa. Agenten in höheren Ebenen waren nicht darunter", so Hilger, der mittlerweile stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau ist.
Komplizierte Verbindungswege, aggressive Konkurrenten
Wie kompliziert die BND-Spionage war, zeigte die "Operation Kassiopeia": Unter diesem Decknamen führte der BND zwischen 1955 und 1963 eine Deutsche in der bulgarischen Stadt Vidin als Quelle. Doch komplizierte Verbindungswege und das aggressive Vorgehen des bulgarischen Geheimdienstes, der "Kassiopeias" bulgarischen Ehemann zwangsrekrutierte, schränkten die Möglichkeiten der Quelle stark ein. Kleinteilige Beobachtungen von Militäranlagen waren die wertvollsten Informationen, die "Kassiopeia" melden konnte - bis sie in Gefahr geriet und "abgeschaltet" wurde.
"Solche Probleme versuchte der BND durch reisende Geschäftsleute, Journalisten oder Touristen auszugleichen, doch deren Informationen blieben punktuell und sie konnten nicht hinter die Kulissen blicken", analysiert Hilger. So führte der BND zwischen 1958 und 1965 einen österreichischen Journalisten, der regelmäßig hinter den Eisernen Vorhang reiste. Der Agent "Gredler" meldete zwar Beobachtungen und Gespräche - den Wert dieser Informationen aber beurteilte der BND als gering. Mit der Zeit interessierten sich immer mehr Geheimdienste in Ost und West für die Quelle; aus der Aufklärungs- wurde eine Gegenspionage-Operation.
Scheitern an den eigenen Ansprüchen
"Findig waren die BND-Mitarbeiter durchaus bei ihrer Spionage", so Hilger weiter. Mitunter nähten sie zum Beispiel Anweisungen an ihre Agenten in Damenunterhosen ein, um sie über die Grenze zu schmuggeln. "Aber die Ergebnisse und Erfolge der BND-Arbeit waren eben sehr begrenzt", fügt er hinzu.
Das sahen auch die Entscheidungsträger in Bonn so und waren mit den Leistungen des BND unzufrieden. 1965 fragte das Verteidigungsministerium, ob die militärische Aufklärung des BND überhaupt "noch am Feind" sei. Bereits drei Jahre zuvor hatte der Leiter der militärischen Vorwarnung sogar seinen Rücktritt mit den Worten angeboten: "Kann für Vorwarnung nicht mehr garantieren."
Überrascht vom Ungarn-Aufstand
Das Gros der BND-Meldungen über Südosteuropa kam ohnehin nicht von Agenten, sondern aus Befragungen von Flüchtlingen und Emigranten in Österreich und Deutschland. Wie sehr der BND dabei seinen eigenen Ansprüchen hinterherhinkte, zeigte der Aufstand 1956 in Ungarn: "Der überraschte den BND völlig", so Hilger. In diesem Jahr gingen gerade einmal 20 Agentenmeldungen über Ungarn bei der Südosteuropa-Dienststelle des BND ein. Als der ungarische Geheimdienst den BND-Agentenführer Sandor Visney am 9.12.1956 bei einem Quellentreff an der österreichisch-ungarischen Grenze entführte, wurde die Lage sogar noch schlimmer.
Es folgten Enttarnungen von Quellen, Dienststellen und hauptamtlichen Mitarbeitern, darunter der Leiter der BND-Gegenspionage gegen Ungarn, Georg Kollenyi. Dass der BND den gebürtigen Ungarn trotzdem auf seinem Posten beließ und 1965 sogar zum Leiter der Militäraufklärung gegen sein Herkunftsland beförderte, war einer der vielen handwerklichen und personalpolitischen Fehler, mit denen sich der BND das Leben selbst schwer machte.
Überschätzte NS-Veteranen
Kollenyi, der im Zweiten Weltkrieg für die ungarische Abwehr gearbeitet hatte und deswegen im BND als Spionageexperte mit Landes- und Sprachkenntnissen galt, war nur ein Beispiel unter vielen für die desaströse Personalpolitik des frühen BND. Andreas Hilger meint: "Der Mehrwert, den man sich von NS- und Wehrmachtsveteranen erwartete, war nicht gegeben. Landeskenntnisse waren selektiv und veraltet, alte Beziehungen durch Machtwechsel gekappt. Die Akten zeigen keine besonderen Spionage-Fähigkeiten dieser Veteranen. Ex-Angehörige der NS-Sicherheitsapparate bauten im BND Netzwerke auf, um sich in sichere Jobs zu bringen. Dabei zählten gemeinsame alte Überzeugungen mehr als Kompetenzen."
Die Südosteuropa-Abteilung war dafür ein Paradebeispiel: Seit ihrer Gründung 1946 bis 1968 standen dieser "Dienststelle 71", wie sie zuletzt hieß, ehemalige Wehrmachtsoffiziere oder, wie der erste Leiter Rupert Mandel, Ex-Mitarbeiter des NS-Reichssicherheitshauptamtes, vor. Erst in den 1960er Jahren, nachdem der ehemalige SS-Mann im BND, Heinz Felfe, als Doppelagent des KGB aufgeflogen war, galten NS-Belastungen zunehmend als Problem.
Aufarbeitung mit Schattenseiten
Diesen Belastungen nachzuspüren, war die Grundaufgabe des 2011 ins Leben gerufenen Geschichtsprojektes. Dazu erhielten die Forscher - weltweit einmalig - vollen Zugang zu den Geheimarchiven eines arbeitenden Geheimdienstes. Die Verzögerungen bei der Freigabe der Studien und die Schwärzungen, die auch in dem neuesten Band immer wieder auftreten, zeigen jedoch die Schattenseiten eines solchen Unterfangens.
Zuletzt machte die Historikerkommission alerdings vor allem durch öffentliche Schlammschlachten von sich reden: Als Anfang 2021 die Studie zur Kooperation des BND mit seinen Partnern erschien, warfen sich die vier beteiligten Professoren gegenseitig schlampige Arbeit, handwerkliche Fehler und "ideologische Differenzen" vor. Die teilweise unter der wissenschaftlichen Gürtellinie liegende Kollegenschelte wurde erst durch ein Vermittlungsangebot des Kanzleramtes im April 2021 beruhigt. Dem entsprechend darf man die weiteren Studien der Geheimdiensthistoriker mit Spannung erwarten.
Wolfgang Krieger (Hg.) in Verbindung mit Andreas Hilger und Holger M. Meding: Die Auslandsaufklärung des BND. Operationen, Analysen, Netzwerke, Ch. Links Verlag Berlin, 986 Seiten, 80 Euro.