Als der Judenhass nach München kam
12. Februar 2020Als einer der schwersten antisemitischen Angriffe im Nachkriegsdeutschland beginnt, lernt Sara Elasari gerade für das Physikum ihres Medizinstudiums im Dachgeschoss der Israelitischen Kultusgemeinde in München. Es ist kurz vor 21 Uhr am 13. Februar 1970. Draußen schneit es leicht, der Beginn einer kalten Winternacht. In Elasaris Zimmer wird es nur wenige Minuten dauern, bis sich der Raum auf mehrere hundert Grad erhitzt.
Flucht aus dem Fenster
Zuerst bemerkt die damals 21-Jährige den Rauch, der sich durch die Ritzen des alten Holzhauses schiebt. "Mir war sofort klar, dass das Brandstiftung gewesen sein muss. Es war Shabbat, niemand kochte mehr, es brannten keine Kerzen, die Synagoge war geschlossen", erinnert sie sich im Gespräch mit der DW. Geistesgegenwärtig presst sie sich nasse Handtücher vor Nase und Mund, um eine Rauchvergiftung zu verhindern. Über eine waghalsige Flucht aus dem Fenster, eine Mansarden entlang und eine Feuerwehrleiter hinab, gelingt ihr der Weg ins Freie.
Was sich an diesem Abend in der Reichenbachstraße 27 in München abspielte, war ein verheerender Anschlag. Am Ende werden sieben Menschen tot sein, allesamt Holocaust-Überlebende. Betroffen waren vor allem die Bewohner des Altenheims, die in der Israelitischen Kultusgemeinde untergebracht waren. Nicht einmal 25 Jahre nach Kriegsende waren wieder Juden in Deutschland einem Anschlag zum Opfer gefallen. "Das war ein unheimlich hinterhältiger Akt. Die Täter wussten genau, dass die alten Leute diesem Feuer nicht würden entkommen können. Das waren Menschen, die den Holocaust überlebt hatten und dann durch ein von Deutschen gelegtes Feuer gestorben sind", sagt Elasari. Die gebürtige Israelin war 1966 zum Studieren nach Deutschland gekommen.
Bis heute ist nicht aufgeklärt, wer den Brand im Treppenhaus der Kultusgemeinde gelegt hat. Im Dachgeschoss wohnte neben Sara Elasari noch ein weiterer jüdischer Student, der aber über das Wochenende zu seinen Eltern gefahren war. Das rettete ihm das Leben. Elasari überstand den Anschlag physisch und psychisch unbeschadet und blieb in Deutschland. Sie fühlte sich nicht unsicher. Übel nimmt sie den Behörden nur, dass sie die Ermittlungsakten so schnell geschlossen haben und den Täter nie ermitteln konnten.
Hinweise aus allen Richtungen
Der Politologe Wolfgang Kraushaar war der erste, dem ein Einblick in die Ermittlungsakten gestattet wurde. Für sein Buch "Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?" beginnt er nachzuforschen, wälzt Akte um Akte. Bald nach dem Anschlag gingen die Ermittler in München mehreren Hinweisen nach. Es gab einen anonymen Anrufer, der einen 18-jährigen Linksradikalen mit dem Anschlag in Verbindung brachte. Ein Bekennerschreiben eines Mitglieds der rechtsradikalen NPD tauchte auf.
Gleichzeitig berichteten mehrere Zeugen von verdächtigen Autos und Personen mit "nahöstlichem Aussehen", was womöglich auf palästinensische Attentäter deutete. Keiner der Hinweise ließ sich erhärten, es kam nie zu einer Anklage. Kraushaar stellt nach dem Blick in die Akten den Ermittlern ein positives Zeugnis aus. "Man kann wirklich sagen, dass die damaligen Ermittler der Münchner Kriminalpolizei sehr systematisch vorgegangen sind. Man kann ihnen keinen Vorwurf machen, dass sie etwas ausgelassen hätten", sagt er der DW.
Ein falsches Bekennerschreiben
Auch den Einwand, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit vielen NS-Größen noch an wichtigen Schaltstellen, könne man ein Interesse daran gehabt haben, Hinweise ins rechtsradikale Milieu zu vertuschen, lässt er nicht gelten: "Es gab keine Scheu, in alle Richtungen zu ermitteln. Ich würde stark bezweifeln, dass aus irgendwelchen politischen Gründen eine Richtung weniger stark oder gar nicht verfolgt wurde." Das NPD-Bekennerschreiben stellte sich kurz nach dem Anschlag als Fälschung heraus.
Für Kraushaar führen die stärksten Spuren ins linksradikale Milieu. Der 18-jährige Hauptverdächtige pflegte enge Kontakte zu anderen Linksradikalen, die wiederum ein Netzwerk bildeten mit einer Gruppe, die erst wenige Monate zuvor einen gescheiterten Bombenanschlag auf die jüdische Gemeinde in Berlin verübt hatten.
Der 18-Jährige hatte zudem kein Alibi. Zwei Mal wurde er verhört, ohne Ergebnis. "Man hatte damals noch nichts Entscheidendes in der Hand, außer Indizien. Diese Indizien waren aber von erheblichem Gewicht. Das ist der einzige Vorwurf, den ich den Ermittlern machen würde, dass sie es nicht geschafft haben, nach der zweiten Festnahme an dem Hauptverdächtigen dranzubleiben. Im Grunde genommen ist er ihnen entwischt", sagt Kraushaar.
Mehrfach war der 18-Jährige schon vorher als Brandstifter in Verdacht geraten. In den Ermittlungsakten heißt es dazu jedoch: "Der Beweis der Täterschaft wurde nie erbracht." Jahrzehntelang wurden die Akten geschlossen. Im Jahr 2013 nahm die Generalbundesanwaltschaft die Ermittlungen wieder auf. Vier Jahre später wurden sie erneut ergebnislos eingestellt. Der 18-jährige Hauptverdächtige von einst war inzwischen verstorben.
Mögliche Komplizenschaft
Für Kraushaar besteht aber ohnehin ein größerer Zusammenhang. Er zieht eine Verbindung zwischen den linksextremen Kräften, die sich damals in der ganzen Bundesrepublik radikalisierten, und palästinensischen Terroristen. Am 10. Februar verübten diese einen Anschlag auf eine israelische El-Al Maschine am Flughafen München-Riem, ein Israeli starb. Am 22. Februar landete zum ersten Mal ein israelisches Regierungsmitglied am Münchner Flughafen in Deutschland.
Schon vor dem Anschlag 1970 hatten sich Linksradikale von palästinensischen Terroristen ausbilden lassen, später werden gemeinsame Aktionen wie die Entführung von Passagiermaschinen folgen. Zweifellos hat es in den 1970er Jahren eine Allianz zwischen radikalen Palästinensern und Linken gegeben, die sich auch aus Antisemitismus speiste. Israel war nach dem 6-Tage-Krieg 1967 zum Feindbild geworden. Ob es aber wirklich eine Zusammenarbeit zwischen Linksextremen und Palästinensern auch in München am 13. Februar 1970 gegeben hat, ist umstritten. Andere Historiker bestreiten diese Verbindung.
Es ist unwahrscheinlich, dass sich dieser erste opferreiche antisemitische Anschlag nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland noch aufklären wird. Der bayerische Kabarettist Christian Springer, der sich seit drei Jahren um ein Erinnern des Anschlags in München bemüht, hat einen Onlineaufruf gestartet. Er appelliert an noch lebende Mitwisser sich zu äußern – bislang ohne Erfolg.
Schutz rund um die Uhr
Für die jüdische Gemeinde war der Anschlag eine Zäsur. Zuvor hatten sie zwar zurückgezogen, aber ohne Polizeischutz ihren Glauben leben können. Das änderte sich jetzt. "Nach zwei Attentaten innerhalb einer Woche in München auf Juden mussten wir uns damit abfinden, dass jüdisches Leben geschützt werden muss", sagt Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München, der DW. Noch in der Nacht des Anschlags ordnete der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher Polizeischutz für jüdische Gemeinden an.
Das hat sich bis heute nicht geändert. Noch immer werden Synagogen und jüdische Einrichtungen rund um die Uhr bewacht. Knobloch zieht eine düstere Parallele zu den Tagen des Terrors 1970 in München. "Das waren einige Tage. Heute verbreitet sich der Judenhass schon mehrere Jahre verstärkt. Der Antisemitismus hat sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gelegt, im Gegenteil, er hat sich langsam wieder erholt."
Sara Elasari, die israelische Studentin, die den Brandanschlag überlebte, versteckt dennoch ihre jüdische Identität nicht. Offen trägt die heute 71-Jährige den Davidstern. Wenn sie an den Anschlag vor 50 Jahren zurückdenkt, erinnert sie sich vor allem an einen Hausbewohner: David Jakubowicz. Er hatte die Konzentrationslager der Nationalsozialisten überlebt. Der damals 60-Jährige betrieb das jüdische Restaurant, das zur Israelitischen Kultusgemeinde gehörte. Manchmal ließ er die Studentin Elasari kostenlos mitessen. Am 13. Februar 1970 ließen ihm die Flammen in seinem Zimmer keine Chance. Um ihn herum fand die Feuerwehr gepackte Koffer. Am nächsten Tag hatte er für immer nach Israel auswandern wollen. Nur für den Shabbat hatte er seine Reise um einen Tag verschoben.