Alle Macht für Erdogan
10. Juli 2018101 Kanonen-Salven zu Ehren des Präsidenten, dazu eine osmanische Militärkapelle und ein klassisches Orchester. So lässt sich Recep Tayyip Erdogan vor seinem Palastgebäude in der türkischen Hauptstadt feiern. Er inszeniert seine neue Macht unter freiem Himmel, vor tausenden geladenen Gästen aus dem In- und Ausland. Viele afrikanische Staatschefs sind gekommen: aus dem Sudan, aus Somalia und dem Tschad. Außerdem der Emir von Katar, Venezuelas Präsident Maduro und der russische Premierminister Medvedjew. Dagegen sind vergleichsweise wenige hochrangige Gäste aus Europa dabei. Vertreter aus Bulgarien, Mazedonien und Ungarn nehmen teil. Deutschland ist vertreten durch Altkanzler Gerhard Schröder.
"Jetzt beginnt eine neue Ära", verspricht Erdogan und wirkt dabei selbstbewusst - wie einer, der sein Ziel erreicht hat. Kurz zuvor hatte er im Parlament seinen Amtseid für weitere fünf Jahre abgelegt. Tatsächlich steht die Türkei damit vor einer Zäsur. Denn ab jetzt gilt das neue Präsidialsystem und Erdoğan ist damit mächtiger denn je: Er ist Staats-, Partei- und Regierungschef in einer Person. Er kann Minister und einige der höchsten Richter ernennen oder feuern, das Parlament auflösen, den Haushalt vorbereiten und per Dekret regieren. Sein Präsidentenpalast in Ankara - von nun an das Zentrum der politischen Macht.
Handverlesenes Kabinett
Auch sein Kabinett gab Erdogan jetzt bekannt: 16 Ministerien wird die Türkei künftig haben. Sein Schwiegersohn, Berat Albayrak, der oft als Kronprinz gehandelt wird, wechselt vom Energie- ins Finanzministerium und muss demnächst dabei helfen, die türkische Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen. Schließlich hat sich Erdoğan viel vorgenommen. Er wolle die Türkei zu "einer der zehn wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt machen". Wie genau er das schaffen will, verriet er nicht.
Außenminister bleibt weiterhin Mevlüt Çavuşoğlu. Er ist künftig auch für die zerrütteten Beziehungen seines Landes zur EU zuständig, denn ein eigenes Europa-Ministerium wird es nicht mehr geben. Auch Innenminister Söylu und Justizminister Gül behalten ihre Jobs. Viele weitere Namen, die Erdogan an diesem Abend nennt, sind bislang eher unbekannt in der Türkei.
Offen bleibt zunächst, was aus MHP-Chef Devlet Bahçeli wird. Er und seine ultrarechte Partei haben Erdogan nicht nur geholfen, die notwendigen Verfassungsänderungen für ein Präsidialsystem durchzusetzen, sondern der AKP am 24. Juni durch ein Parteien-Bündnis auch die Parlamentsmehrheit gesichert. Beobachter rechnen fest damit, dass Bahçeli daher eine Gegenleistung einfordern wird.
Zerrissene Gesellschaft
Trotz aller Machtfülle - eines hat sich nicht geändert: Erdogan regiert ein zutiefst gespaltenes Land. Und das wird deutlich, sobald man sich außerhalb der Palastmauern bewegt. In Çankaya im Stadtzentrum von Ankara leben viele junge Leute, in diesem Viertel gibt es Bars und Klubs. Die Mehrheit der Wähler hier hat gegen Erdoğan gestimmt. "Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, aber ich denke, nichts Gutes", sagt ein junger Mann. "Er hat doch ohnehin schon alles unter Kontrolle und es wird nur noch schlimmer. Er und seine Leute sprechen immer von Demokratie, aber es ist ihre Demokratie, nicht unsere". Viele Türken sehen das ähnlich. 47 Prozent haben am 24. Juni gegen Erdogan gestimmt. Vielen macht die Vorstellungen, dass er jetzt weitere fünf Jahre regiert, Angst.
Vielleicht auch deshalb schlug Erdogan nach seiner Vereidigung überraschend versöhnliche Töne an. Er versprach, ein Präsident "nicht nur für seine Wähler, sondern für alle 81 Millionen Türken zu sein". Die Türkei werde von nun an nur noch Fortschritte machen, so Erdoğan, "und zwar in allen Bereichen, auch in Sachen Demokratie und Freiheit".
Noch einen Tag zuvor ließ Erdogan per Dekret mehr als 18.500 weitere Staatsbedienstete entlassen, darunter Polizisten, Soldaten, Akademiker. Ihnen werden Verbindungen zu Terrorgruppen vorgeworfen, die die "Staatssicherheit gefährden". Auch drei Zeitungen, ein Fernsehsender und zwölf Nichtregierungsorganisationen wurden dicht gemacht. Möglich macht das der Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch im Juli 2016 gilt. Im Wahlkampf hatte Erdogan versprochen, den Notstand endlich aufzuheben. Noch hat er dieses Versprechen aber nicht eingelöst.