Algerien: Ändert sich nur die Fassade?
12. März 2019Die Forderungen der Algerier erinnern an die des Arabischen Frühlings: Langzeit-Präsident Abdelaziz Bouteflika solle zurücktreten, faire Wahlen sollen stattfinden, die Verfassung novelliert und tiefgreifende Reformen eingeleitet werden. Die Massenproteste haben in Algeriens Machtgefüge ein Erdbeben ausgelöst. Der schwer kranke Präsident ließ Montagabend (11.3.) in einer schriftlichen Erklärung über die Staatsmedien verkünden, er trete nicht mehr an. Premierminister Ahmed Ouyahia reichte seinen Rücktritt ein. Viele Algerier feiern diesen Rückzug zwar als einen ersten Etappensieg. Zugleich sind sie aber mehr als skeptisch, ob Bouteflikas angekündigter Rückzug in der angekündigten Form eine wirkliche Veränderung bringen wird.
Denn in seinem Schreiben an die Nation erklärte Bouteflika auch, dass die für den 18. April angesetzte Präsidentschaftswahl abgesagt sei, wie die staatliche Nachrichtenagentur APS mitteilte. Das bedeutet: Bouteflika tritt zwar nicht zum fünften Mal an - aber seine jetzige vierte Amtszeit wird ohne klare verfassungsrechtliche Grundlage einfach verlängert. Eine Nationalkonferenz soll bis Ende 2019 über Reformen beraten und die Verfassung überarbeiten. Der bisherige Innenminister Noureddine Bedoui wurde mit einer Regierungsumbildung beauftragt. An der Konferenz sollen alle politischen und gesellschaftlichen Gruppen teilnehmen. Das Ergebnis soll dann dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Geht es nach dem Präsidentenpalast, sollen die nächsten Wahlen erst danach stattfinden, ein genauer Zeitplan dafür fehlt bisher. Bis zu diesem Zeitpunkt werde Bouteflika im Amt bleiben und den "Prozess der Transformation unseres Staatswesens" überwachen, hieß es in seinem Schreiben an die Bevölkerung lediglich.
Die Antwort vieler Algerier ist eindeutig und spiegelt sich auch in der digitalen Welt wider. Unter einem Hashtag, der übersetzt "#Keine Verlängerung der vierten Amtszeit" lautet, protestieren viele gegen Bouteflikas Pläne. Auch neue Demonstrationen wurden gemeldet.
Nahostexpertin Gudrun Harrer von der Universität Wien findet es nachvollziehbar, dass die Demonstranten mit Bouteflikas Plänen nicht zufrieden sind: "Der Jubel war groß, denn man dachte es ist ein signifikanter Schritt. Für ihn selbst ist es bestimmt ein großes Entgegenkommen. Aber Bouteflika ist noch lange nicht weg. Er bleibt im Amt, die vierte Amtszeit wird verlängert. Damit kann man nicht zufrieden sein, weil es keine wirklichen Zusagen für die Zukunft gibt."
Bouteflikas Erbe
Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika kam 1999 an die Macht und ist somit der am längsten amtierende Präsident Algeriens seit der Unabhängigkeit 1962. Auch wenn seit Wochen gegen Bouteflika protestiert wird - einst wurde er als Nationalheld gefeiert. Er nahm am Befreiungskrieg teil und ist seinerzeit mit nur 26 Jahren vom Tourismusminister zum Außenminister aufgestiegen. Bouteflika gilt als kluger Politiker und Taktiker. Seine Rolle bei der Beendigung des Bürgerkrieges wird bis heute von vielen Algerien gewürdigt.
Doch seine politischen Erfolge liegen lange zurück. Seit einem Schlaganfall 2013 sitzt er im Rollstuhl, hat Artikulationsprobleme und lebt zurückgezogen. Nur einen Tag vor seiner Rücktrittsankündigung war er von einem Klinikaufenthalt in Genf nach Algier zurückgekehrt.
Wachsender Widerstand
Es ist offensichtlich, dass die Unterstützung für Bouteflika zuletzt quer durch alle Bevölkerungsschichten zurückgegangen ist. Denn Widerstand gab es nicht nur auf den Straßen. Sogar das algerische Militär drückte einmal seine Sympathie für die Demonstranten aus, obwohl es zuvor auch Warnungen geäußert hatte, die viele Demonstranten als Drohung empfanden. Der staatliche Fernsehsender "Ennahar" zitiert den Generalstabschef Gaed Salah jedoch zuletzt mit den Worten: "Das Militär und das Volk haben die gleiche Zukunftsvision." Mehr als 1000 algerische Richter schlugen sich ebenfalls auf Seite der Demonstranten.
Oppositionspolitiker Ahmed Azimi hält Bouteflikas Versprechen für einen Witz. Bouteflika hätte sofort zurücktreten sollen, wenn er wirklich bereit wäre etwas zu ändern, meint er. "Wie soll beispielsweise der bisherige Innenminister Noureddine Bedoui Chef einer neuen Nationalkonferenz sein, wenn er uns Algeriern erst vor einer Woche öffentlich das Versammlungsrecht abgesprochen hat?!" Azimi sagt, er befürchte, das politische System werde sich überhaupt nicht ändern. "Die werden keine Veränderungen bewirken, dafür hatten sie doch schon letzten zwanzig Jahre Zeit!", sagte er im arabischen Programm der DW.
Undurchsichtiger Machtzirkel
Als undurchsichtig gilt das Machtgefüge in Algerien schon länger. "Wer wirklich reagiert, weiß man nicht", so Nahost-Expertin Harrer. "Ob Bouteflika die Entscheidungen trifft oder wer anderer ist unklar." Die Person Bouteflika sei nur ein Baustein in der Machtkonstruktion Algeriens, so Harrer. "Le Pouvoir", "die Macht", liegt in den Händen der Regierung, des Geheimdienstes und des Militärs. Dieser Machtzirkel aus Familienmitgliedern, Militärs, Geschäftsleuten und Eliten um den Präsidenten profitiert von Geldern aus der Staatskasse und den Gewinnen aus dem Gas- und Erdölgeschäft. Korruption und Verschwendung öffentlicher Mittel gelten als weit verbreitet. Die junge Bevölkerung des 40-Millionen-Einwohner-Landes leidet unter fehlenden Job- und Lebensperspektiven.
Offensichtlich versucht Algeriens Regime derzeit, Zeit zu gewinnen, um die Bevölkerung zu beruhigen und die eigene Macht neu zu formieren. Es sei völlig unklar, was genau derzeit hinter den Kulissen verhandelt wird, so Universitätsprofessorin Harrer. Die nun geplante Nationalkonferenz vergleicht sie mit einer Nebelgranate. "Sie soll den Anschein erwecken, es wird etwas getan. Dabei ist die Befürchtung vieler, dass sich das Militär durchsetzt. Es könnte darauf hinauslaufen, dass nur die Fassade sich ändert."