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"Schwarz oder Weiß - das gab's im Osten nicht"

Sabine Peschel
31. Januar 2019

Alexander Scheer ist einer der herausragenden Schauspieler Deutschlands. Als Liedermacher "Gundermann" macht er DDR-Geschichte lebendig. Für die DW blickt der Ostberliner zurück auf die "Lebenswirklichkeit DDR".

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Deutschland Film Gundermann | Schauspieler Alexander Scheer
Bild: picture-alliance/Geisler-Fotopress/J. Krick

Die Liste der Auszeichnungen, die Alexander Scheer für seine Schauspielkunst schon entgegennehmen durfte, ist lang. Zweimal war er Schauspieler des Jahres. Die Produktion "Carlos - Der Schakal", in der er den Terroristen Johannes Weinrich verkörperte, erhielt 2011 den Golden Globe Award als beste Mini-Serie. Er spielte in so verschiedenen Filmen wie Leander Haußmanns "Sonnenallee", in "Pirates of the Caribbean 5" und in "Tschick". Und fast jährlich wurde er für seine darstellerische Leistung in Fernsehfilmen und auf der Bühne gewürdigt. Auch 2019 kann er sich schon über eine Auszeichnung freuen: Das Geiseldrama "Gladbeck", in dem er eine tragende Rolle spielte, wurde am 31. Januar mit dem Deutschen Fernsehpreis zum besten Mehrteiler gekürt.

Alexander Scheer stand in Bochum und Hamburg auf der Bühne, vor allem aber war er fast 20 Jahre lang Frank Castorfs Volksbühne im Berliner Osten verbunden. Die Absetzung Castorfs als Intendant 2017 empfand er wie viele andere Stamm-Schauspieler als eine Art Abwicklung des international erfolgreichen Hauses. Aktuell feiert er als David Bowie in "Lazarus" am Schauspielhaus Hamburg Erfolge.

In Andreas Dresens Film "Gundermann" verkörpert der 42-Jährige den DDR-Liedermacher (und Baggerfahrer) Gerhard Gundermann, der bis dahin im Westen Deutschlands fast unbekannt war. Der Poet und Sänger "Gundi" war ein Idealist, ein Zerissener, der als Spitzel für die Stasi über seine Musikerkollegen berichtete - und selber bespitzelt wurde. Der Film machte vielen Zuschauern bewusst, wie groß die Lücken in der gegenseitigen Ost-West Wahrnehmung immer noch sind.

Filmstill "Gundermann"
Alexander Scheer als "Gundermann"Bild: Pandora Film/Peter Hartwig

Deutsche Welle: Sie waren 14, als die Mauer fiel. Erinnern Sie sich noch an Ihre Gefühle von damals? Was war Ihnen damals wichtig? War der Mauerfall für Sie als Jugendlichen überhaupt ein einschneidendes Erlebnis?

Alexander Scheer: Aber hallo! Meine Gefühle von damals… Mit 13 - man kriegt es nicht wirklich mit. Aber klar im Rückblick. Das war tatsächlich ein Epochenbruch. Das kann sich sowieso keiner vorstellen, was das heißt. Aber in meiner Generation - im Jahr '90 war ich zweimal 14. Einmal im Osten, einmal im Westen. Ich bin sozusagen dual sozialisiert, man kann sogar sagen, bipolar, komplett entgegengesetzt.

Sie haben als Jugendlicher in Ost-Berlin gewohnt.

Ohne sich zu bewegen, hat sich der Osten in den Westen verwandelt. Ein Kumpel von mir war bei der NVA. Da gab es dann diesen Verwaltungsakt von fünf Minuten - die alte Fahne kam runter, und die neue kam hoch. Und er musste sozusagen über die historische Besonderheit hinwegsehen, dass er für das Land, gegen das er sein Leben im Kriegsfall hätte einsetzen müssen, jetzt ebenfalls mit seinem Leben kämpfen sollte. Das sind Schnittstellen - die versteht kein Mensch. Und von diesen Schnittstellen gab es einige.

Wenn du 14 bist, ist sowieso alles verrückt. Dann bist du aber auch noch in der Zeit in Ost-Berlin - dann ist alles doppelt verrückt. Das prägt natürlich. Immer, wenn mir jetzt irgendjemand sagt, das geht aber nicht, dann sage ich: Baby, es geht alles! Ich hab's gesehen.

Andreas Dresens Film "Gundermann" schafft es, das Lebensgefühl der DDR intensiv wachzurufen. Sie haben in der Rolle des Liedermachers großen Anteil daran. Finden Sie, dass diese Zeit und das Lebensgefühl im Osten zu wenig im gesamtdeutschen Bewusstsein verankert ist, zu wenig wachgehalten wird?

Bonn, Haus der Geschichte: Alexander Scheer und Regisseur Andreas Dresen mit Band
Alexander Scheer und Regisseur Andreas Dresen bei einem Gundermann-Konzert im Bonner "Haus der Geschichte"Bild: Haus der Geschichte/Martin Magunia

Ja, das würde ich schon sagen. Klar, Andis Film schien 2018 der Markstein zu sein, an dem sich eine Welle brach und man endlich mal sagte: Ach so! Bisher wurde über viele Dinge in der deutschen Geschichte überhaupt nicht gesprochen. Das ist in der deutschen Geschichte ja öfter vorgekommen, dass man sagte, nee, gab's nicht, hatten wir nicht, war nicht!

Sie sind ein extrem wandelbarer Schauspieler. Die Ähnlichkeit Ihrer Filmfigur mit dem 1998 verstorbenen Gerhard Gundermann ist geradezu unheimlich. Wie haben Sie sich denn auf die Rolle des bekannten Liedermachers und Baggerführers vorbereitet?

Natürlich über Recherche. Ob jetzt fiktiver Charakter oder biografische Rolle: erstmal Recherche! Bei einer biographischen Rolle braucht man natürlich viel mehr Zeit. Da gibt's ja Parameter, die jeder kennt. Wie sieht er aus, wie spricht er, und wie denkt er und warum? Das muss ja erst mal in die Birne - und dann auch wieder raus. Das dauert.

Und dann gibt es auch noch den gesellschaftlichen Kontext. Haben Sie auch Akten gelesen?

Ich hatte tatsächlich Zugriff auf seine Akten, die Stasi-Täter-Akte. Die Opfer-Akte ist ja erst vor kurzem wieder aufgefunden worden. Eine andere wichtige Quelle war das Interview-Buch von Hans-Dieter Schütt, - fünf Gespräche - "Tankstelle für Verlierer". Eine Fundgrube! Ich habe alle Dokumentarfilme angesehen, die es gibt. Und ich habe einen Super-Fan in Köpenick ausfindig gemacht, Gaby, die hatte eine Festplatte voll Zeug, was keiner hat: Obskurste Live-Mitschnitte, aus Cottbus in irgendeinem Club. Oder die sehr sehenswerte Doku "Schmerzen der Lausitz", auch Auftritte in Talkshows und so weiter. Zeug, was sonst keiner hatte - das habe ich rauf und runter geguckt. Dann natürlich die Schallplatten. Am besten kommt man natürlich an Gundi durch seine Lieder ran, die habe ich auch rauf und runter gehört.

In dem Film "Das wilde Leben" über 68er-Ikone und Rockstar-Groupie Uschi Obermaier waren Sie der Stones-Gitarrist Keith Richards. Sie haben dafür E-Gitarre spielen gelernt. Als Liedermacher Gerhard Gundermann singen Sie alle Lieder selbst. Jetzt stehen Sie in Hamburg als David Bowie auf der Bühne. Cooler Rocker oder gefühlvoller Liedermacher - in welcher Rolle finden Sie sich selber eher wieder?

Eine Rolle ist eine Rolle, und eine Arbeit muss getan werden, ob man das will oder nicht. Aber mir ist es sicherlich näher, den Rocker zu spielen.

Es ist was übrig geblieben von Keith Richards, nämlich die E-Gitarre, die ich jetzt spielen kann. Von Gundermann blieb auch etwas hängen. Es gibt ja den schönen Song von ihm: "Von jedem Tag will ich was haben, was ich nicht vergesse. Ein Lachen, ein Sieg, eine Träne, ein Schlag in die Fresse." So soll es auch mit meiner Arbeit sein. Ich möchte auch von jedem Film, von jedem Stück, das ich mache, etwas haben, was ich nicht vergesse.

Filmstill ARD-Zweiteiler "Gladbeck"
Alex Scheer (l.) zusammen mit dem ebenfalls für den Fernsehpreis Nominierten Sascha Alexander Gersak im TV-Zweiteiler "Gladbeck"Bild: picture alliance/dpa/M. V. Menke/ARD Degeto/Ziegler Film

Finden Sie, dass die DDR-Vergangenheit, ihre Alltagskultur mehr aufgearbeitet werden müsste?

Ja, wir haben eine andere Wahrnehmung. Es gibt einen grundlegenden Unterschied im Ansatz, über Sachen nachzudenken, zwischen Ost und West. Ich finde das immer blöd, wenn man so sagt, der Westler, oder auch die Westlerin. Aber ich habe das bei meinen Gesprächen mit Journalisten aus Ost und West oder auch, wenn ich in Hamburg am Theater arbeite, bemerkt: Der Westler hat einen völlig anderen Ansatz als der Ostler - oder die Ostlerin, über Sachen nachzudenken. Das ist natürlich eine Frage der Sozialisation.

Worin besteht der Unterschied?

Zum Beispiel, wenn ich mich mit Journalisten unterhalte: wie man fragt, was man wissen will, worauf der Fokus geht. Natürlich gehört dazu die Frage: War das nicht alles ganz furchtbar, wenn alle bei der Stasi waren? Darum geht's überhaupt nicht! So eine schwarz-weiß Zeichnung von politischem Leben - entschuldige mal! Man hat doch ein Leben geführt!

Wenn wir uns unsere heutige Zeit angucken - was wissen wir denn, wie die mal politisch bewertet wird? Wir leben in einem kompletten politischen Wahnsinn. Die Banken verzocken die Weltwirtschaft. Trump dreht frei. Und die Polkappen schmelzen. Aber: Man hat Familie, geht ein Bier trinken und guckt die Fußball-Weltmeisterschaft an. Du führst doch ein Leben!

Ich habe immer das Gefühl, man müsste sich rechtfertigen, für alles, was in der DDR passiert ist. Entweder wird es ignoriert, oder es gilt irgendwie als vertane Zeit - und wird entwertet. Wir leben in diesem Land, und da kann man doch nicht so tun, als hätte es das nicht gegeben! Es geht um den Umgang mit Geschichte - und das ist erst einmal alles, was wir haben, Geschichte. Unsere Geschichten, die in der gemeinsamen deutsch-deutschen Geschichte, die zu erzählen, die zu entdecken: Dafür sind wir angetreten, und die sind es auch wert. Denn wenn wir uns nicht erinnern, dann wissen nicht auch nicht, wo wir herkommen.

Haben Sie das Gefühl, dass diese Diskussion jetzt gerade erst anfängt?

Ja, es geht jetzt irgendwie was los. Das ist ein bisschen spät. Wenn ich mir Ost-Berlin angucke - die Stadt ist durchgentrifiziert. Wenn ich mir die Volksbühne ansehe, ist es dasselbe Thema. Da stand ja nicht umsonst "Ost" drauf. Nicht wegen der DDR, sondern wegen einer anderen Haltung: Sachen aus einem anderen Grund zu machen als aus dem Grund, dass man den Markt bedienen möchte. Das ist ja eine ganz wichtige kulturelle Haltung generell des Ostens, dass man erst mal sagt: Wir machen das nicht, um etwas zu verkaufen. Wir haben über 25 Jahre an dieser Bude eine Freiheit verteidigt, in der wir uns sagten: Wir haben gar keinen Bock auf Markt. Wir haben ganz andere Spielregeln. Das hat bisher irgendwie noch keiner verstanden.

Carlos der Schakal 2010 Flash-Galerie
Scheer (l.) 2010 in "Carlos - Der Schakal"Bild: 2009 Film En Stock - Egoli Tossell Film

Aber das ließe sich nicht auf den Begriff Ost-Identität verkürzen?

Ganz und gar nicht. Wenn wir jetzt die Volksbühne nehmen: Das war die letzte Kulturinstitution von Weltrang, die von zwei Typen aus dem Prenzlauer Berg geleitet wurde. Man kann sich ja heute angucken, wer aus dem Osten irgendwie Karriere gemacht hat. Da haben wir die Kanzlerin. Dann haben wir Rammstein, und dann haben wir (den Regisseur und ehemaligen Volksbühnenintendanten, d. Red.) Frank Castorf. Mehr ist nicht.

Phantomschmerz Volksbühne…

Na ja, klar.

Ist Gundermann in diesem Sinn ein Heimatfilm?

(lacht) Auf jeden Fall. Ein Heimatfilm. Ein Musikfilm, ganz klar. Ein Liebesfilm, ohne Frage. Ich habe selten gesehen, dass sich ein Film die Zeit nimmt, eine Liebesgeschichte über zwanzig Jahre zu erzählen. Und es ist tatsächlich ein echter Dresen.

Thema Stasi-Vergangenheit. Der Film hat mich an Wolfgang Hilbigs gleichzeitig traurigen und satirischen Roman "Ich" erinnert. Darin wird ein Möchtegern-Poet aus irgendeiner Kleinstadt von der Stasi angeworben, nach Berlin geschickt und auf die Schriftsteller-Szene des Prenzlauer Berg angesetzt. Die Geschichte wird immer absurder, er wird selber zum Opfer der Stasi, aber auch sein Führungsoffizier dreht philosophisch immer mehr ab. Die Kategorien Opfer und Täter gehen vollkommen ineinander über. Auch Gundermann war Täter und Opfer. Lässt sich da noch nach Schuld und Unschuld differenzieren?

Sowas können Sie mich gar nicht fragen. Ich habe Gundermann gespielt, das war eine Aufgabenstellung meines Berufes.

Der Film bezieht sich auf eine reale historische Figur, in die Sie sich eingefühlt haben. Es geht um deren Lieder, die Ideale dieses Menschen, sein Leben.

Wir haben ja auch in der Gauck-Behörde gedreht. Wenn man sich vorstellt, wie viele Tausende Meter Regale von Akten dort zugänglich sind - das passt ja heute auf zwei Terrabyte-Platten. Aber nur weil man Einblick hat, heißt das ja nicht, dass man das Recht hat, von heute aufs Gestern zu zeigen und zu bewerten. Jetzt ist das ja ganz einfach, da kann man sagen, aha, ich sehe das soundso, aber damals war das sicher nicht so einfach. Und ist es auch heute nicht.

Man kann nicht sagen, Schwarz oder Weiß, diese Kategorie existiert nicht im Leben. Und im Osten schon gar nicht. Da gab es auch jede Menge Grau. Und dazwischen jede Menge Bunt. Und wenn Filme uns weismachen wollen, dass eine Sache so oder so gewesen ist, dann sollte man immer skeptisch sein. Das kann ein Film gar nicht leisten, zu sagen, wie irgendwas wirklich war.

Das Gespräch führte Sabine Peschel.