Albert Schweitzers Spital
16. April 2013Frühjahr 1913: Nach einer dreiwöchigen Reise erreichen der gebürtige Elsässer Albert Schweitzer und seine Frau Helene den Ort Lambaréné am zentralafrikanischen Ogooué-Fluss. Lambaréné liegt nah am Äquator, mitten im tropischen Regenwald. Es herrscht eine Hitze wie im Treibhaus. Albert Schweitzer will auf dem Gelände der Pariser evangelischen Missionsgesellschaft ein Hospital errichten. Dafür hat er seine vielversprechende akademische Karriere in Europa aufgegeben. Doch die Mittel sind von Anfang an begrenzt. Und so beginnt der "Docteur" in einem fensterlosen Hühnerstall zu praktizieren. Die Patienten kommen in Scharen.
Das war der Anfang. Im Laufe der Jahrzehnte hat der Arzt, Theologe, Philosoph, Umweltschützer und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer (1875-1965) seine Vision von einem Dorf für die Kranken in Afrika verwirklicht. Heute ist das Albert-Schweitzer-Krankenhaus ein modernes Spital mit rund 270 Mitarbeitern, eigenen Küchen, Werkstätten, Wohnhäusern und einem Kindergarten. Das angeschlossene Institut für Tropenmedizin gehört zu den führenden Forschungseinrichtungen in Afrika. Es wird von der deutschen Universität Tübingen geleitet.
Ein Krankenhaus für alle
"In Gabun ist das Albert-Schweitzer-Hospital einzigartig. Es leistet einen wichtigen Beitrag zum Gesundheitswesen", sagt Roland Wolf. Er vertritt den Deutschen Albert-Schweitzer-Hilfsverein im Vorstand der Internationalen Spitalstiftung. "Patienten reisen selbst aus der 230 Kilometer entfernten Hauptstadt Libreville an, um sich hier behandeln zu lassen." Der Geist von Albert Schweitzer wird im Krankenhaus noch immer gelebt: "Bei uns wird jeder Patient aufgenommen und behandelt." In anderen gabunischen Krankenhäusern sei das nicht selbstverständlich, so Wolf.
Albert Schweitzer legte den Fokus von Anfang an auf die Zuwendung zum Patienten. Wolf erläutert Schweitzers Grundsätze: "Wir betrachten Kranke bis heute nicht als Fälle, sondern wir pflegen kranke Menschen." Dazu gehöre auch 100 Jahre später noch, dass Angehörige mit ins Spital kommen, dort übernachten, kochen und waschen können.
Überschwemmungen, Mücken, Hitze
Dass es das Spital am Ogooué-Fluss heute gibt, ist Albert Schweitzers Hartnäckigkeit, seiner persönlichen Bescheidenheit und seinem Engagement zu verdanken. Denn die Herausforderungen waren von Anfang an riesig: Gebäude mitten im Dschungel errichten, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und medizinischem Equipment in einem kaum erschlossenen Gebiet organisieren und die Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden regeln. Schweitzer und seine Frau Helene, die als Krankenschwester arbeitete, kämpften für ihre Ideale gegen viele Widrigkeiten. Immer wieder kam es auf dem Gelände zu schweren Überschwemmungen. Zudem waren Hitze und Mücken für Europäer schwer auszuhalten.
Im Ersten Weltkrieg wurde das deutsche Paar in der damaligen französischen Kolonie interniert und nach Europa gebracht. Als Schweitzer 1924 nach Lambaréné zurückkehrte, war das Spital von Pflanzen überwuchert. Er musste bei Null beginnen. 1927 errichtete der "Urwalddoktor" das Hospital auf eigenem Grund und Boden neu, konzipierte es diesmal als das Dorf für Kranke, von dem er immer geträumt hatte.
Schweitzer machte Mut
In den folgenden Jahrzehnten wurde das Krankenhaus permanent erweitert, auch durch die Hilfe von Freiwilligen aus Europa. Einer von ihnen war der Deutsche Siegfried Neukirch. Der heute 82-Jährige kam 1959 ins Schweitzer-Spital und blieb sieben Jahre. Albert Schweitzers Grundsatz imponierte ihm zutiefst: "Das Spital sollte getragen werden von der Liebe der Menschen. Das hat uns Kraft gegeben", erzählt er.
Schweitzer ging laut Neukirch stets mit gutem Beispiel voran und hatte ein offenes Ohr für seine Mitarbeiter: "Er war von der ersten Begegnung an freundlich, herzlich und gerecht zu allen und schenkte uns sein Vertrauen." Schweitzer konnte aber auch streng sein: "Er hatte einen eisernen Willen. Für ihn stand fest, dass die Arbeit Vorrang hatte", beschreibt Siegfried Neukirch, der unter anderem als Fahrer und Bauarbeiter im Spital arbeitete.
Auch sich selbst schonte Albert Schweitzer bis ins hohe Alter nicht. Nachts entwickelte er seine berühmte Ethik von der "Ehrfurcht vor dem Leben", setzte sich für Frieden und gegen Atomwaffen ein. Seine humanistischen Überzeugungen waren stets spürbar, berichtet Siegfried Neukirch: "Für mich bleibt er mein großer Lehrer, ein wunderbarer Freund und ein Vorbild für mein Leben."
Kritik von afrikanischen Intellektuellen
Nicht alle sahen damals in Schweitzer den liebevollen "Urwald-Arzt". Afrikanische Intellektuelle kritisierten ihn in den 1950er und 60er Jahren für seine autoritäre Haltung gegenüber Afrikanern. François Bingono Bingono, Kulturjournalist, Anthropologe und Dozent an der Universität Yaoundé 2 in Kamerun, erklärt: "Man empfand ihn als aggressiv gegenüber den Kranken. Man hat ein Stück Herzlichkeit vermisst, man hat ein Stück Gefühl und ein Stück Zuneigung vermisst. Es war als ob er ein Soldat im Dienst der Medizin gewesen wäre." Diese jungen Afrikaner kämpften für staatliche Unabhängigkeit. Für sie stand Schweitzer für die koloniale Vergangenheit des Kontinents. Dazu trug sein militärisch-strenges Verhalten bei: Mitarbeiter ließ er zum Appell in einer Reihe antreten, es kam vor, dass er Afrikaner ohrfeigte.
Die Meinung der Intellektuellen stand allerdings in starkem Gegensatz zur Verehrung Schweitzers in der Bevölkerung. François Bingono Bingono sagt: "Die Bevölkerung hat ihn fast als Retter betrachtet, denn er hat neue Methoden im Gesundheitswesen eingeführt." Dieser Respekt habe aber auch mit der Kulturgeschichte Zentralafrikas zu tun: Die Menschen waren es gewohnt, den Führenden in der Gesellschaft Respekt zu zollen. "Die Bevölkerung hat ohne weiteres das akzeptiert, was die Intellektuellen als Brutalität kritisierten, und dass er sich zum Herrscher aufgeschwungen hat", erläutert der Kulturjournalist.
Afrikaner als "jüngerer Bruder"
Betrachtete Schweitzer die Afrikaner nicht als gleichwertig? Der im März 2013 verstorbene nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe beschrieb Schweitzers Einstellung einmal so: "Der Afrikaner ist mein Bruder, aber nur mein jüngerer Bruder." Für Achebe hatte Schweitzer zwar viel für Afrika geleistet, stand aber auch gleichzeitig für den gutmeinenden Europäer, der mit Afrikanern nicht auf Augenhöhe kommunizierte.
Auch am Zustand des Krankenhauses gab es Kritik: Französische Militärärzte erklärten später, Schweitzer habe es zu Lebzeiten nicht ausreichend modernisiert. Sowohl Zeitzeuge Siegfried Neukirch als auch François Bingono Bingono widersprechen dieser Darstellung. "Das war zu einer Zeit, in der Afrika noch dabei war, die Struktur und die Infrastruktur westlicher Krankenhäuser zu entdecken. Die Geräte und die Infrastruktur entsprachen dem Standard der damaligen Zeit", so Bingono.
Ein Vorbild für viele Deutsche
Die afrikanische Kritik an Albert Schweitzer ist in Deutschland kaum bekannt. Für viele Deutsche verkörpert er bis heute ein Ideal: Gut jeder Vierte gab 2013 in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach an, er sei eines der drei wichtigsten Vorbilder - neben Mutter Teresa und Nelson Mandela. In Deutschland und auf der ganzen Welt versuchen Stiftungen und Zeitzeugen wie Siegfried Neukirch das geistige Erbe Schweitzers lebendig zu halten und sein humanitäres Werk fortzusetzen.
In Lambaréné ist dieses Vorhaben in den Jahrzehnten nach Schweitzers Tod 1965 gelungen. Heute trägt der Staat Gabun das Krankenhaus gemeinsam mit Spendern aus aller Welt. Die Finanzierung bleibt dennoch das größte Problem. Laut Roland Wolf wird es immer schwieriger, Spendengelder für dringend notwendige Modernisierungen aufzutreiben. Auch herrsche im Krankenhaus ein Ärztemangel. Für europäische Mediziner sei der Dienst in Lambaréné nur noch wenig attraktiv. Vielleicht wirkt Albert Schweitzers Vermächtnis auch deshalb heute noch so inspirierend für viele Deutsche: Er gab seine Karriere in Europa auf, um in Afrika zu helfen.
Im Jubiläumsjahr 2013 veranstaltet der deutsche Hilfsverein mehr als 200 Benefizkonzerte sowie eine Fülle von Lesungen und Diskussionsveranstaltungen zugunsten des Albert-Schweitzer-Spitals in Lambaréné.